An den besten amerikanischen Hochschulen tobt der Aufstand gegen Aufklärung und Gedankenvielfalt. Es ist das Ergebnis von Lehrplänen, die seit einer Generation vom Verrat der Intellektuellen künden.
Der Aufruhr, der im Oktober in Harvard begann, hat sich über das ganze Land verbreitet – mit der erlauchten «Efeu-Liga» an der Spitze. In Harvard und an der Universität Pennsylvania wurden die Präsidentinnen entlassen. Die Chefin von Columbia bangt um ihre Zukunft. Die Campus-Polizei marschiert auf, der US-Kongress mischt sich ein. Es wird nicht studiert, sondern protestiert, auch gewaltsam. Wer anders denkt, wird verfemt.
Der Vergleich mit den Krawallen vor einem halben Jahrhundert drängt sich auf. Es ging um Vietnam und Bürgerrechte für Schwarze, noble Ziele. Dieser Autor war mit dabei, frappierend sind die Unterschiede zu heute. Damals tobte nicht der Hass. Wir mussten allenfalls die «pigs» (Bullen) fürchten, nicht unsere Kommilitonen. Wir sassen auf der fünf Meter hohen Campusmauer und provozierten unbeschadet die Polizei. Mehr als Tränengas hatten wir nicht zu erwarten – schlimmstenfalls eine Nacht im Knast. Dann holten uns die teuren Uni-Anwälte heraus, und wir wurden als Helden gefeiert.
Die Revolte 1.0 war auch eine Party mit Gras, Sex und Rock. Zwar flogen auch Steine gegen Streifenwagen, trotzdem ging die Sache gut aus. Wir parlierten mit der Verwaltung und weichten unsere «unverhandelbaren» Forderungen auf. Stanley Hoffmann, ein eminenter Politikprofessor, plädierte für «mehr Licht und weniger Hitze». Der Dekan Archie Epps resümierte: «Es war ein ausgehandelter Vertrag mit den Studenten.» Unter anderem wurde die Offiziersausbildung geschlossen.
Zweigeteilte Welt
Der Kontrast zu heute könnte nicht greller sein. Wir haben damals in unseren Zirkeln Marx und Marcuse gelesen. Doch unsere Lehrer (mit Tweedjackett und Pfeife) instruierten uns, die Thesen den «bourgeoisen» Regeln der Logik und Faktentreue zu unterwerfen. Seitdem hat sich das Lehrangebot radikal verändert. Nennen wir es woke, ein Gemenge von Critical Race Theory und Zungenbrechern wie Dekonstruktivismus, Postkolonialismus, Genderismus.
Vorweg wird die Welt unterteilt in «Unterdrücker» und «Unterdrückte». Hier der Westen, vor allem der «kolonialistische Siedlerstaat» Israel. Dort der «globale Süden», zu dem auch das totalitäre China gezählt wird, das tausend Jahre lang Vietnam unterworfen hatte – und heute Tibeter und muslimische Uiguren verfolgt.
Auf der Seite der Guten stehen auch die Araber, die einst Nordafrika und Iberien erobert und besiedelt hatten. Ebenso die Türken, die 400 Jahre lang Arabien bis zum Golf beherrschten, Völkermord an den Armeniern betrieben hatten und heute Syrer und Kurden bombardieren. Auch afrikanische Gewaltherrscher gehören zu den «Verdammten dieser Erde» (Frantz Fanon), obwohl sie den Genozid in Biafra und Rwanda zu verantworten haben. Beschwiegen werden die Verfolgung der Rohingya in Myanmar oder die Vertreibung von Christen durch das muslimische Aserbaidschan. Die Liste lässt sich beliebig verlängern.
Woher kommt diese Doppelmoral, die auch die Vertreibung von 750 000 Juden aus ihrer muslimischen Heimat von Algiers bis Bagdad ignoriert? Oder die Millionen von Lateinamerikanern, die Zuflucht in den USA suchen? Dazu müssen wir in die Lehrpläne amerikanischer Universitäten eindringen.
Deshalb zurück zu Harvard, der ältesten und renommiertesten Hochschule. Tauchen wir ein in das Lehrangebot der Faculty of Arts and Sciences, der grössten Fakultät. Und suchen nach Kursen über «Kolonialismus» mit Vorsilben wie «Neo-» und «Post-», plus Neuschöpfungen wie «Kolonialität». Das ergibt fünf Dutzend. Jenseits von Harvard kommen Aberhunderte von minder berühmten Institutionen dazu, etwa die Universität Washington, wo die Studenten angehalten werden, etwas über «Rassismus, Imperialismus und Siedlerkolonialismus» zu lernen. Agitprop als Analyse.
Sündenregister der Weissen
An der Columbia lehrt Mohamed Abdou «Decolonial Queerness», etwa «Entkoloniale Schwulheit». Dies zu dechiffrieren, schafft ein Prä-Postmoderner nicht. Abdous Schüler aber müssen darin eine coole Nummer gesehen haben. Die rigorose Prüfung der Begriffe und Theorien – das Wesen aller Wissenschaft – konnten sie sich ersparen, geht es doch um die richtige Haltung, den Feind des kritischen Denkens.
Hinzu kommt eine ausufernde DEI-Bürokratie. Die setzt nicht «diversity», sondern Gutdenk durch. Nicht «equity» (etwa Fairness), sondern Proporz; nicht «inclusion», sondern Vorteile für favorisierte Kollektive wie Schwarze und LGBTQ. Dagegen bekommen allzu tüchtige Asien-Amerikaner einen Malus bei der Bewerbung in Harvard, wogegen sie vor dem Obersten Gericht erfolgreich geklagt haben. Die Quoten bleiben in aufgehübschter Form.
Je abstruser, desto besser. «Intersektionalität» bezeichnet die Diskriminierung von Entwürdigten. Auf der Liste weisser Sünden: Rassismus, Sexismus, Klassismus, Islamo-, Homo- und Transphobie. (Und Phobie heisst hier Pathologie.) Entscheidend ist die «Identität». Die basiert nicht auf dem Ich, sondern dem Wir. Vorrang haben die «Marginalisierten» als Opfer «weisser Vorherrschaft», die seit Ende der Kolonien in den 1960er Jahren Geschichte ist. So entsteht eine neue Hierarchie, ein neuer Ständestaat: der weisse Mann oben, die identitären Gruppen unten.
Einst haben die Sozialwissenschaften kollektive Zuweisungen als «Essenzialismus» geächtet. Sprich: So ist und bleibt der Deutsche (machtbesessen), der Katholik (verschlagen), der Jude (geldgeil). Im Kanon des Korrekten sind indes die wahren Zielscheiben Aufklärung und Liberalismus, wonach nur das Individuum Träger universeller Rechte und Freiheiten ist. Weil ich zu X gehöre, heisst nicht, dass ich so fühle und denke wie die Gruppe. Deren Wesen ändert sich. Das bezeugen die Deutschen und die Japaner, die nunmehr zu den Friedfertigsten zählen.
Freilich zeugt das Opferdasein hübschen strategischen Gewinn. Im Kern lautet die Devise: mehr für uns und weniger für euch. Es geht um Gruppenvorteile: Macht, Status und Besitz – um das älteste Spiel aller Politik. Wer bekommt was, wie und warum? Ein Schuft, der sich Böses dabei denkt.
So auch im Macht- und Deutungskampf an den Universitäten: Wer bestimmt, was gelehrt wird, wer als Student aufgenommen, zum Professor ernannt wird? Hinzu kommt der Antisemitismus, der nach dem Holocaust auf ewig verbannt zu sein schien. Der zeigt seine Fratze ausgerechnet in der «Efeu-Liga», wo mit der Heiligsprechung des Todeskults der Hamas der Judenhass wabert und eine neue Elite heranwächst.
Vordergründig geht es um Palästina und eine israelische Soldateska, die in Gaza angeblich einen Genozid betreibe. Doch was bedeutet der Kampfruf «From the River to the Sea», der jetzt auf jedem Campus erschallt – Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer –, wenn nicht das Ende des einzigen jüdischen Staates?
Vor der Cornell-Universität brüllt ein Demonstrant, er wolle die «Schweine-Juden abknallen». An der Pennsylvania bekundet ein jüdischer Student: «Ich will nicht zurück ins Jahr 1939, als Juden sich kaschieren mussten. Anfänglich dachte ich an schiere Panikmache – bis die Universität empfahl, keine Kleidung und Accessoires zu tragen, die einen als Juden ausweisen.» An der Columbia meldet Noah Miller, er werde «in diesem Semester nicht mehr auf den Campus zurückkehren, weil die Uni nichts für die jüdischen Studenten tue. Sie ist nun judenrein.»
Durchschaubares Kalkül
Derlei Zitate summieren sich nicht zum Beweis. Bedeutsamer ist deshalb ein Signal der Columbia-Verwaltung. Sie hat es den Studenten erlaubt, an Kursen per Zoom teilzunehmen. Diese Vorsichtsmassnahme lässt darauf schliessen, dass sie erkannt hat: Juden haben Angst, die nicht bloss eingebildet ist.
Die Verantwortlichen der Hochschule haben ebenfalls Angst. Sie wackeln hin und her. Einmal schicken sie die Polizei, dann wieder besänftigen sie. Sie relegieren Studenten und beurlauben professorale Stichwortgeber. Doch lassen sie die Zeltstädte auf dem Columbia-Campus stehen, die den ordentlichen Lehrbetrieb lähmen. Vor einem Kongress-Ausschuss konnten sich die Präsidentinnen von Harvard und Pennsylvania nicht dazu durchringen, die Hamas-Mordorgie vom 7. Oktober zu verdammen, es gelte der «Kontext».
Heute darf man plattes Kalkül unterstellen: In ein paar Wochen ist das Universitätsjahr vorbei; dann werden sich die Empörten nach Hause trollen. So war es nach dem Harvard-Studentenstreik im Frühjahr 1969. Als die Zöglinge im Herbst zurückkehrten, war die Revolte vorbei.
Man könnte zynischer spekulieren. Im Vergleich mit den 1960er Jahren hat sich die ethnische Komposition der Hochschulen radikal verändert. Der Forscher Neetu Arnold berichtet von einer «Revolution, der Internationalisierung der US-Universität». An den Elite-Unis betrage der Anteil der Ausländer nun 25 Prozent. Diese Studenten seien «Cash-Kühe», weil sie die vollen Gebühren von 80 000 Dollar pro Jahr hinlegen, häufig mit staatlichen Stipendien aus der Heimat.
«Die Proteste», so Arnold, «sind eine Oase für arabische und muslimische Studenten mit ihrem spezifischen Groll gegen Israel und die USA.» Sodann: «Manchmal haben diese die Proteste mit ihren Pro-Hamas-Slogans angeführt.» Mithin kämen die «Rufe nicht allein von linken amerikanischen Studenten».
Überdies hätten arabische Staaten Abermillionen in Nahost- und Islam-Zentren investiert. Die Unis seien nicht erpicht darauf, solche «Kühe» zu schlachten. Oder reiche Golfstaaten zu verprellen. Seit 2001 hat Katar, wo der Hamas-Chef Ismail Haniya residiert, an die fünf Milliarden Dollar gespendet.
Anders als in den 1960er Jahren haben Amerikas Universitäten inzwischen die Saat eingepflanzt, die nun den Boden vergiftet. Gewarnt hat der renommierte Berkeley-Philosoph John Searle schon 1965: «Radikale sind der Feind intellektueller Werte.» Heute darf man hinzufügen: Die Universitäten haben diese Werte der Ideologie geopfert. Jetzt fressen die Kinder der Revolution deren Väter.
Josef Joffe ist Distinguished Fellow in Stanford. Er hat dort wie in Harvard und an der Johns Hopkins University Politik und Geistesgeschichte gelehrt.