Die Ukraine gehöre zu Russland: Das ist Wladimir Putins Mantra. Er werde davon nicht abrücken, ist der US-Historiker Eugene Finkel überzeugt.
«Russen und Ukrainer sind ein Volk – ein einziges Ganzes.» «Ukrainer sind russische Brüder, die befreit werden.» «Die Ukrainer sind Brüder desselben Blutes, die wir beschützen.» Alle drei Sätze könnten von Wladimir Putin stammen. Doch nur der erste ist tatsächlich von ihm. Der zweite stammt von einem Generalstabschef des Zarenreiches im Jahr 1914. Der dritte wurde im Kreml ausgesprochen, als Stalin im Jahr 1939 in die Ukraine einfiel.
Aus russischer Sicht ist die Ukraine das Tor zu Europa. Wer wie Putin das alte russische Imperium wiederherstellen will, muss dieses Tor kontrollieren. Die drei Zitate, die Eugene Finkel an den Anfang seines Buchs «Intent to Destroy» stellt, zeigen eine grausame Kontinuität. Ob Kaiser, Bolschewik oder Präsident auf Lebenszeit: Wer in Russland herrscht, will die Ukraine unter seine Herrschaft bringen.
Finkels historischer Überblick erstreckt sich über mehrere Jahrhunderte, schildert die Greueltaten, die der Kreml wieder und wieder an seinen «Blutsbrüdern» beging, und dokumentiert die Verwüstung ihres Landes. Unterwerfung, Unterdrückung nationaler Regungen, Zerstörung ihrer Kultur und Sprache wiederholten sich im Lauf der Jahrhunderte bis heute. Am schlimmsten war vor neunzig Jahren der Hungerterror namens Holodomor mit bis zu fünf Millionen Toten.
Folter, Vergewaltigung, Bombardierung
Russlands Angriff auf die Ukraine vor drei Jahren hat viele überrascht. Geschichtsvergessenheit hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, dazu kamen Desinteresse und die gedankenlose Übernahme des russischen Narrativs: Die Ukraine und der Westen seien die wahren Schuldigen. Wer glaubt, Putin werde sich mit einem Teil der Beute zufriedengeben, muss Finkel lesen. Mit seiner akribischen Analyse der Motive, die hinter dem russischen Angriff stehen, zeigt er, warum Moskau Kiew nicht in Ruhe lassen wird.
«Absicht, zu zerstören» ist ein klassisches Merkmal von Völkermord. Finkel, Professor an der Johns Hopkins University, ist auch Genozidforscher. Er erklärte schon nach dem Massaker in Butscha im März 2022: «Das ist Genozid. Punkt.» Der Krieg möge als territorialer Eroberungszug angefangen haben, habe sich aber nach dem raschen Steckenbleiben in einen genozidalen Vernichtungskrieg gewandelt.
Die Mittel waren und bleiben Folter, Vergewaltigung, Bombardierung von zivilen Einrichtungen wie Theatern, Kindergärten, Krankenhäusern, Bibliotheken, Museen. Schliesslich die Deportation von mindestens 700 000 ukrainischen Kindern, die in Russland adoptiert werden, ob sie Eltern haben oder nicht. Sie sollen in Russland «umerzogen» werden. Zu echten Russen. Den Schutzlosen will man das verhasste Ukrainertum austreiben.
Es geht um Vernichtung
Die Beispiele mörderischer Gewalt, die Finkel Seite um Seite ausbreitet, sind so ungeheuerlich, dass man sie nicht einfach als Ausdruck eines gewöhnlichen Kriegs betrachten kann. Die komplette Zerstörung von Mariupol, die allein mehr als 20 000 Menschenleben forderte, erinnert an die Zerstörung Grosnys mit mehr als 200 000 Toten oder der Stadt Aleppo in Syrien mit mindestens 50 000 Toten. Da geht es nicht darum, einen militärischen Vorteil zu erreichen. Es geht um Vernichtung.
«Absicht, zu zerstören», das ist die Definition von Völkermord, und sie wurde von Raphael Lemkin, gebürtig aus Lwiw, dem Erfinder des Begriffs «Genozid», nach dem Zweiten Weltkrieg formuliert. Der englische Rechtsgelehrte Sir Hersch Lauterpacht, ebenfalls aus Lwiw, entwickelte das Konzept des «Verbrechens gegen die Menschlichkeit». Die beiden Ukrainer hatten das Wesen des Genozids aus Geschichte und Selbsterfahrung ergründet. Sein Kern ist die systematische Auslöschung nationaler Identität von Gruppen, Konfessionen oder Staaten – im Fall der Ukraine im historischen Ausmass seit zweihundert Jahren.
Die russische Vernichtungsideologie ist älter als die jüngste Invasion vor bald drei Jahren. Diese Weltanschauung sei, so Finkel, der «Eckstein imperialer, sowjetischer und schliesslich postsowjetischer Politik». Seit je gehe es nicht allein um Besitz und Ausdehnung. Das Ziel sei die Ausmerzung der «ukrainischen Sprache, Geschichte und Kultur», schreibt Finkel.
Angst vor der Demokratie
Das Streben danach, die Ukraine auszulöschen, ist in Russland eine Glaubenssache. Das Mantra, das dahinter steht, lautet, Russland sei der rechtmässige Erbe der Kiewer Rus – des mittelalterlichen Grossreichs, das die gegenwärtige Ukraine, Weissrussland und das westliche Russland umfasste. Für die Ukrainer legte Fürst Wolodimir vor mehr als tausend Jahren die Grundlage für eine freie Ukraine. Für die Russen ist Wladimir der Schöpfer des russischen Staates. «Russe zu sein», schreibt Finkel, «bedeutet, eine besondere Beziehung mit – und einen Anspruch auf – zumindest Teile der Ukraine und ihrer Vergangenheit zu haben.»
Es geht allerdings nicht nur um Kultur und Kontrolle. Auch nicht nur um einen vorgeschobenen Posten Richtung West- und Mitteleuropa. «Beim Faktor Sicherheit», so Finkel, sei das zentrale Bedürfnis «zuallererst die Bewahrung des autokratischen Regimes in Russland». Nichts «beängstigt einen russischen Autokraten mehr als eine demokratische und freie Ukraine». Warum? Die schlichte Antwort: Wenn die Ukrainer eine Demokratie aufbauen können, dann könnte das ihren angeblichen Blutsbrüdern in Russland auch gelingen. Demokratie als Bazillus.
Nicht vernachlässigen dürfe man laut Finkel die Gier Russlands nach den fruchtbaren Böden der Ukraine. Die Moskauer Brotaufstände hatten 1917 zur Abdankung des Zaren geführt. Kein Wunder, dass Lenin vor hungernden Russen in Petrograd warnte und «Getreide, Getreide und noch mehr Getreide» forderte. Der Stoff zum Brotbacken kam aus der Ukraine. Er war eine unabdingbare Stütze jedes Regimes.
Gelegenheit macht Diebe
Das Sicherheitsbedürfnis des Kremls, ob strategischer, kultureller oder wirtschaftlicher Art, ist der Kern des russischen Imperialismus. Mit der Bedrohung durch die Nato oder EU, schreibt Finkel, habe das wenig zu tun. Eher gelte: Gelegenheit macht Diebe. Und der Westen tat so gut wie nichts, um Moskau die Beute vorzuenthalten.
Nach dem Raub der Krim 2014 und der Besetzung des Donbass hatte Putin verstanden, dass sich der Westen nicht ernsthaft engagieren würde. Das Minsker Abkommen von 2014 war, schon einen Tag nachdem es geschlossen worden war, Makulatur. Putin verstiess gegen jede Auflage – wie den Abzug schweren Geräts. Nur eines hatten die Russen nicht erwartet: dass die Ukrainer so hartnäckig für ihre Freiheit kämpfen würden – und zwar mit Geschick und Durchhaltekraft.
Finkels Darstellung der ukrainischen Tragödie ist eine dreihundert Seiten lange Anklage jahrhundertealter russischer Besessenheit – gegen den nimmer endenden Trieb, die Ukraine als eigenständiges politisches und kulturelles Gebilde auszuradieren. Sein Fazit: Ändern wird sich Moskaus Drang nach Westen nur, «wenn die russische Gesellschaft ihre identitären Träume von der Einheit zweier Nationen aufgibt».
Der Westen solle die Ukraine bei der Demokratisierung unterstützen, fordert Finkel. Doch die Hauptlast müsse von der Ukraine selbst getragen werden. Allerdings: Allein werde es das Land nicht schaffen. Hoffentlich werden die neuen Regierungen in Berlin und Washington diese simple Einsicht beherzigen.
Eugene Finkel: Intent to Destroy: Russia’s Two-Hundred-Year Quest to Dominate Ukraine. Basic Books, London 2024. 336 S., Fr. 46.90.