Mittels Eintrittsgesprächen, Stressmanagement und deeskalierendem Personal sollen Haftschäden und überhöhte Kosten vermieden werden.
«Jetzt machen wir zuerst einmal eine Atemübung. Dann konzentrieren wir uns auf die Probleme, die sich lösen lassen. Alles Unlösbare lassen wir beiseite», sagt die Frau und lächelt charmant. Die Szene, die dem neusten Achtsamkeits- oder Stoikerseminar entnommen sein könnte, spielt sich in einer Zelle im ehemaligen Gefängnis Meilen ab. Es geht gerade um Stressmanagement. Die Frau ist ein Coach, ihr gegenüber sitzt ein Häftling.
Die Untersuchungshaft ist für die meisten Tatverdächtigen ein Schock. Um eine Flucht, Absprachen oder das Zerstören von Beweismitteln zu verhindern, schränken die Behörden die Bewegungsfreiheit der Betroffenen stark ein. Und dies von einem Moment auf den anderen. So kommt es, dass die U-Haft die restriktivste Haftform ist, obwohl die Unschuldsvermutung gilt.
Eine Zelle weiter wird gerade fleissig diskutiert. Ein Insasse will telefonieren, wie er mit Gesten zu verstehen gibt. Das Problem dabei: Der Mann gehört zur Mafia, und ein Telefon ist das Letzte, was ihm der Wärter aushändigen darf. Der Insasse wirkt zunehmend gereizt – wie lässt sich der Schlamassel lösen?
Die von Mitarbeitern der Justizdirektion gespielten Szenen im ehemaligen Gefängnis Meilen, das heute Schulungszwecken dient, sollen illustrieren, was hierzulande künftig besser ablaufen soll in der Untersuchungshaft. Denn die Kantone Zürich und Bern haben «ein Projekt für die Schweiz» lanciert: einen «Modellversuch U-Haft», den Zürichs Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) und Berns Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) am Dienstag der Öffentlichkeit vorstellten.
Gerade der Kanton Zürich stand in der Vergangenheit wegen des strengen Haftregimes und der veralteten Infrastruktur immer wieder in der Kritik: 23 Stunden am Tag eingesperrt, telefonieren verboten, sprechen mit Angehörigen nur durch eine Trennscheibe. Die Ungewissheit über die Haftdauer, die soziale Isolation stürzten nicht wenige Betroffene in eine Haftpsychose. Der Umgang mit den Häftlingen brachte dem Kanton 2014 harsche Kritik der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter ein.
Die Justizdirektorin Fehr machte sich deshalb daran, die Untersuchungshaft zu reformieren. Den Entschluss fasste sie bei einem Gefängnisbesuch 2015, als sie erfuhr, dass die Insassen auch im Sommer nur einmal pro Woche duschen durften.
Fehrs Plan lautet seither, die negativen Begleiterscheinungen so gut wie möglich abzufedern. Weil 99 Prozent aller Häftlinge wieder auf freien Fuss kämen, sei die Wiedereingliederung ab der ersten Minute nach der Verhaftung zentral, sagte die Justizdirektorin.
Seither gibt es in der U-Haft Gruppenvollzug und Beschäftigungsmassnahmen. Auch das 2022 eröffnete Gefängnis Zürich-West soll zur Verbesserung beitragen. Statt bloss eine Stunde können Untersuchungshäftlinge heute wochentags bis zu acht Stunden ausserhalb der Zelle verbringen. Jeder Insasse soll arbeiten und Kurse besuchen können. Auch die Sportangebote (und die Duschmöglichkeiten) wurden ausgebaut.
Wird die Miete bezahlt, und wer schaut zum Haustier?
Der nun in Meilen vorgestellte Modellversuch, der schon in elf Untersuchungsgefängnissen in den Kantonen Bern und Zürich angelaufen ist, sieht weitere Massnahmen vor, um sogenannte Haftschäden zu verhindern. Künftig müsse die Untersuchungshaft noch weiter darauf ausgerichtet sein, die Ressourcen der Verhafteten zu erhalten, sagt Fehr.
So soll neu innerhalb der ersten drei Hafttage ein «Lebenseintrittsgespräch» stattfinden. Darin wird scheinbar Triviales abgefragt: Sind daheim alle versorgt? Kümmert sich jemand um das Haustier? Wird die Miete bezahlt? Bestehen Schulden? Wenn nötig, sollen sich Fachleute um Sofortmassnahmen kümmern. «Die Haft darf nicht das Leben dieser Menschen zusätzlich erschweren», sagte Fehr.
Ausserdem soll in der U-Haft neu ein sogenanntes «Prison Stress Management» etabliert werden. Das Online-Tool, das für Stressberufe entwickelt worden ist, wurde für den Gebrauch im Gefängnis angepasst. Hier kommen besagte Atem- und Mentalübungen zum Einsatz. Weitere Mittel sind ein neues Ausbildungsprogramm für die Aufseherinnen und Aufseher zur besseren Pflege der Beziehung zu den Insassen.
Zudem sollen die Kontakte zu den Angehörigen und Bezugspersonen gefördert werden. Und auch der Übergang von der U-Haft in den Strafvollzug oder in die Freiheit soll verbessert werden. Der Projektleiter Stefan Tobler sagt dazu: «Nicht dass jemand nach der Haft auf der Strasse landet».
Berner Regierungsrat Müller: «Es ist nicht ein lockeres Setting»
Der Berner Regierungsrat Philippe Müller erklärte: «Je mehr Haftschäden behandelt werden müssen, desto höher sind die Kosten der Wiedereingliederung.» Die Untersuchungshaft bleibe aber eine Haft. «Es ist nicht ein lockeres Setting. Niemand bekommt deswegen ein bequemeres Kissen.» Auch sei zentral, dass der Versuch keinen Einfluss auf das Strafverfahren oder die Strafverfolgung habe.
Der Modellversuch soll 12 Millionen Franken kosten, Zürich wird deren 6 Millionen übernehmen, Bern deren 3. Weitere 3 Millionen steuert der Bund bei. Die ETH sowie die Universität Zürich begleiten und evaluieren den Versuch. Die Resultate sollen in rund vier Jahren vorliegen, erste Zwischenresultate bereits 2026.
Das Programm ist für die Inhaftierten freiwillig, momentan nehmen laut Fehr durchschnittlich zwei von fünf Inhaftierten am Eintrittsgespräch teil. Für rund 40 Prozent aller Insassen der Zürcher Untersuchungsgefängnisse seien aber keine derartigen «sozialdienstlichen Interventionen» vorgesehen, wie der Projektleiter Tobler erklärt. Bei ihnen handelt es sich um ausländische Tatverdächtige, die im Ausland wohnhaft sind, aber hier in U-Haft sitzen. Bei dieser Gruppe komme lediglich das Stressmanagement zum Einsatz.
Zurück zum fingierten Insassen, welcher der Mafia angehört. Tatsächlich lässt sich dieser mit viel gutem Zureden in Ich-Botschaften irgendwann beruhigen. Bleibt für alle Beteiligten zu hoffen, dass auch in der Realität ähnlich deeskalierend vorgegangen werden kann.