Börsengehandelte Indexfonds begannen als belächelte Idee, heute bewegen sie Billionen an Anlegergeldern. Ihr Siegeszug war aber alles andere als selbstverständlich. Das waren die Schlüsselmomente ihres Erfolgs.
Für den Anleger von heute ist es das Normalste der Welt: mit ETF an der Börse investieren. Wer nicht die Zeit und das Fachwissen hat, um sein Geld selbst zu verwalten, oder zu wenig Vermögen hat, um Kunde einer Privatbank zu sein, ist mit börsengehandelten Indexfonds bestens bedient. Es ist schwer vorstellbar, dass es einmal eine Zeit ohne ETF gab.
Die Ursprünge des Finanzprodukts liegen über 200 Jahre zurück. Eine von England ausgehende Krise hatte ab 1772 viel Vermögen vernichtet. Sie wurde zum Ausgangspunkt für eine Innovation, die die Finanzwelt bis heute prägt.
1. Die Erfindung des ersten Anlagefonds
Es war im Juli 1774, als ein niederländischer Kaufmann namens Abraham van Ketwich Anleger einlud, Anteile an seinem Investmentfonds zu kaufen. Van Ketwich nannte das Produkt «Eendragt Maakt Magt». Auf Deutsch: «Einigkeit macht stark.» Der erste Anlagefonds der Geschichte investierte in Anleihen aus Dänemark, Österreich, Russland, Schweden, Spanien sowie in Plantagenkredite in den Kolonien. Er schüttete jährlich 4 Prozent der investierten Summe aus.
Erstmals konnten Kleinanleger mit bescheidenem Vermögen ihr Geld im Rahmen eines diversifizierten Portfolios anlegen, ohne dass sie die einzelnen Titel direkt besitzen mussten. Eine Möglichkeit, die zuvor nur reichen Investoren offenstand.
Für seine Dienste erhielt van Ketwich bei der Gründung des Fonds einen Ausgabeaufschlag von 0,5 Prozent sowie eine günstige jährliche Verwaltungsgebühr von 0,2 Prozent. Die physischen Wertpapiere bewahrte er laut der Universität Yale in seinem Büro in einer «eisernen Truhe mit drei unterschiedlich funktionierenden Schlössern» auf.
Weitere Investmentfonds entstanden später auch in Grossbritannien und in den Vereinigten Staaten. In den 1920er Jahren startete in den USA der erste offene Fonds, bei dem Anleger jederzeit Anteile kaufen oder zurückgeben konnten.
2. Der erste Indexfonds kommt auf den Markt
Der nächste grosse Schritt in Richtung ETF kam Anfang der 1970er Jahre, als Angestellte der Wells Fargo Bank den ersten Indexfonds erfanden. Er bildete einen kapitalisierungsgewichteten Index aus grossen US-Aktien ab. Investieren konnten nur institutionelle Anleger – an der Börse konnte man ihn nicht handeln.
Die Idee, einen Fonds aufzulegen, der einen Aktienindex nachbildet, stiess auf Skepsis. Kritiker sahen darin eine Garantie auf Durchschnittlichkeit und eine «Bankrotterklärung des Anlageberaters». Dass ein passiv verwaltetes Portfolio langfristig erfolgreicher sein könnte als das geschickte Handeln erfahrener Fondsmanager, schien unglaubwürdig. Dabei hatte der amerikanische Ökonom Michael C. Jensen bereits Ende der 1960er Jahre im «Journal of Finance» aufgezeigt, dass aktive Fondsmanager es nicht schafften, den Markt langfristig zu schlagen.
Mitte der 1970er Jahre legte John Bogle, heute bekannt als Gründer von Vanguard, nach. Er lancierte den ersten Indexfonds für Privatanleger. Der First Index Investment Trust bildete den amerikanischen Aktienindex S&P 500 nach und war zunächst ein Flop. Die Presse machte sich lustig über Bogle, doch er hielt an seinem Projekt fest. Er sollte recht behalten. Der als «Vanguard 500» bekannte Fonds verwaltet heute über 1000 Milliarden Dollar.
In der Schweiz dauerte es noch zwei Jahrzehnte, bis der erste Indexfonds Fuss fasste. Im Jahr 1989 brachte der Schweizerische Bankverein (SBV) mit dem «SBC 100»-Index-Fund das erste Produkt dieser Art für Schweizer Aktien auf den Markt. In einem Inserat in der NZZ hob die Vorgängerbank der UBS die Vorteile des passiven Investierens hervor: Anleger, die sich für den Indexfonds entschieden, kontrollierten nicht nur das Risiko, sondern holten sich damit auch noch eine Performance, die nicht selten besser sei als diejenige der «Superstars», schrieb der SBV.
Das Inserat plädierte für einen «indexierten Kern» in den Portfolios. Wenn man einen Grossteil des Depots an die Performance des Marktes festbinde, dann lasse einem dies genügend Zeit, auf Spezialsituationen an der Börse «wirklich zu reagieren». Allerdings war auch der «SBC 100» noch nicht an der Börse handelbar.
3. Der moderne, passiv verwaltete ETF entsteht
Sogar noch vor dem «SBC 100» kam der Startschuss für den modernen ETF. Dieser kam im Oktober 1987 ebenfalls nach einer Krise, an einem Tag, der als «Schwarzer Montag» in die Geschichte einging.
Nach dem Börsencrash vom 19. Oktober 1987 suchten Regulierer und Anleger nach Lösungen, um ein solches Debakel in Zukunft zu verhindern. Die amerikanische Aufsichtsbehörde SEC analysierte im 900-seitigen Bericht «October Market Break» die Ursachen des Crashs und empfahl beiläufig, «einen alternativen Ansatz zu prüfen». Sie schlug vor, die Schaffung eines börsengehandelten Produkt zu prüfen, das wie ein Index funktioniert, aber wie eine Aktie gehandelt werden kann. Das sollte die Folgen eines Crashs besser abfedern.
Die Idee fiel auf fruchtbaren Boden bei zwei Angestellten der American Stock Exchange, einer Börse, die es heute nicht mehr gibt: Sie hiessen Nate Most, ein Physiker, und Steve Bloom, ein Ökonom. Die SEC hatte in ihrem Bericht die Grundidee eines ETF skizziert, aber Most und Bloom machten daraus ein Produkt. Sie entwickelten ein System, das sicherstellte, dass ETF stets eng am zugrunde liegenden Index blieb.
Bevor ihr Konzept marktreif wurde, musste es viele Hürden überwinden. Eine erste Bewährungsprobe war ein Treffen mit Jack Bogle von Vanguard. Most fragt Bogle, ob sich sein 1976 lancierter Indexfonds an der Börse handeln lasse. Bogle reagierte skeptisch: «Warum sollte jemand den S&P 500 um 10 Uhr morgens kaufen und ihn um 14 Uhr nachmittags wieder verkaufen wollen?», fragte er.
Die ETF-Pioniere mussten auch um die Zustimmung der SEC kämpfen, was sich als anspruchsvoll herausstellte. Nach zähen Verhandlungen erhielt der erste ETF die Genehmigung: Am 22. Januar 1993 ging der SPDR-S&P-500-ETF mit dem Ticker «SPY» an die Börse.
Der Durchbruch blieb zunächst aus. Die neue Produktkategorie, die in Kanada sogar noch früher lanciert worden war, stiess zwar auf Interesse. Doch nach einem ersten Schwung an Handelsaktivität flaute das Interesse an der amerikanischen Börse ab.
Mit der Zeit wuchs das Handelsvolumen wieder, und durch Mundpropaganda verbreitete sich die Nutzung des ETF. Die Investoren erkannten die Vorteile, die Nachfrage hob ab: In den Folgejahren vervielfachten sich die verwalteten Vermögen, der ETF-Markt begann sich auf weitere Anlageklassen und Strategien auszuweiten. Heute ist SPY einer der meistgehandelten ETF der Welt.
4. Der Durchbruch des ETF in Europa
Als der heutige Blackrock-Schweiz-Chef Dirk Klee 2008 die Führung der ETF-Marke «iShares» übernahm, waren börsengehandelte Indexfonds in Europa eine Randerscheinung. «Banken boten ETF schlicht nicht an. Es war eine Zeit, als Provisionen und Kickbacks dominierten. Produkte ohne Rückvergütungen hatten es schwer», sagt Klee.
Dann kam die globale Finanzkrise. «Die Welt brach zusammen – und plötzlich hatten wir täglich mehrere hundert Millionen Dollar Zuflüsse.» Während strukturierte Produkte kollabierten, suchten Anleger Sicherheit. Die physische Hinterlegung von ETF in Depotbanken erwies sich als Vorteil gegenüber intransparenten Fonds, die auf Derivaten aufbauten. ETF wurden vom Krisengewinner zum neuen Standardprodukt.
Die Konsumentenschützer wurden zu unerwarteten Verbündeten. «Sie sahen sofort, dass ETF ein gutes Produkt sind», sagt Klee. Schliesslich machte der Vermögensverwalter Blackrock den entscheidenden Schritt, kaufte 2009 Barclays Global Investors und mit ihr die ETF-Marke «iShares».
Auch andere Anbieter drangen auf den Markt: Vanguard, State Street und auch europäische Akteure wie Xtrackers von der Deutschen Bank. Die 2018 in Kraft getretene EU-Finanzmarktrichtlinie Mifid II erschwerte in vielen Ländern den Vertrieb provisionsbasierter Produkte, was ETF für Berater attraktiver machte.
ETF sind nicht mehr nur für Privatanleger und Profi-Investoren relevant. «Sechzehn europäische Zentralbanken nutzen iShares-Produkte», sagt Klee.
Die Zukunft des ETF
Heute umfasst der ETF-Markt verwaltete Vermögen in der Höhe von über 10 Billionen Dollar. Und der Markt entwickelt sich weiter. ETF sind längst keine rein passiv verwalteten Anlageprodukte mehr, die nur der Risikostreuung dienen. Sie setzen immer häufiger auch auf aktive Strategien, auch mit Unterstützung künstlicher Intelligenz, um für die Anleger eine Überrendite herauszuholen. ETF-Anbieter lösen die Grenzen zwischen klassischen und digitalen Finanzmärkten auf.
So berichtete Bloomberg vergangene Woche, dass Blackrock einen Bitcoin-Fonds für Europa auflegen will. Der weltweit grösste Vermögensverwalter bereitet demnach die Lancierung eines börsengehandelten Produkts vor, das direkt an den Bitcoin gekoppelt ist. Der Fonds soll laut dem Bericht in der Schweiz domiziliert sein, nachdem das Unternehmen bereits in den USA mit seinem iShares Bitcoin Trust (Ibit) Rekorde gebrochen hat. Der US-Fonds hat seit Einführung vor einem Jahr rund 60 Milliarden Dollar an Kundengeldern angezogen und gilt als das erfolgreichste ETF-Debüt in der Geschichte. Blackrock äusserte sich bislang nicht zu den Plänen.