Sie sind grösser als Hightech-Chips, kommen aber in allen Elektronikgeräten vor: «Legacy-Chips» stammen immer häufiger aus China. Die USA warnen vor Marktverzerrungen. Experten ordnen ein.
Die USA und Europa erweitern ihren Fokus im Technologiekonflikt mit China. Bis anhin beschränkten sich die Amerikaner darauf, China den Zugang zu den kleinsten, modernsten Computerchips zu verwehren. Nun beschäftigen sich Politiker in Washington und Brüssel mit Chips, die zwar grösser und weniger modern sind, dafür aber in allen erdenklichen Elektrogeräten vorkommen und deshalb extrem wichtig sind. Die Furcht der Politiker: Peking könnte im Bereich dieser sogenannten Legacy-Chips eine dominierende Position erlangen.
An einem Gipfel zwischen hochrangigen Beamten der EU und der USA sagte die amerikanische Handelsministerin Gina Raimondo im April, der Bereich der Legacy-Chips sei der nächste, den China erobern wolle. Die chinesische Regierung subventioniere die Industrie massiv, was zu riesigen Marktverzerrungen führen könnte. In den USA und der EU laufen Untersuchungen zu dem Thema. Doch wie berechtigt ist die Warnung Raimondos?
China baut Kapazitäten stark aus
Tatsächlich prognostizieren Experten der chinesischen Legacy-Chip-Industrie enormes Wachstum. Legacy-Chips sind gemäss den amerikanischen Exportkontrollen gegen China Halbleiter von einer Grösse von 14 Nanometern oder mehr. Raimondo warnt vor Chinas Bestrebungen in diesem Bereich.
Jan-Peter Kleinhans, Chipexperte bei der deutschen Denkfabrik Interface, sagt auf Anfrage, China werde beispielsweise in den nächsten drei bis fünf Jahren 25 neue Fabriken für Chips von einer Grösse zwischen 20 und 65 Nanometern in Betrieb nehmen. In diesem Grössenbereich entspräche dies doppelt so viel neuer Kapazität wie im Rest der Welt zusammen.
Damit dürfte der Anteil Chinas an der globalen Legacy-Chip-Produktion bald massgeblich steigen. Das prognostiziert etwa das taiwanische Forschungsinstitut Trend Force.
Das horrende Tempo, mit dem China seine Produktion ausbaut, wird unter anderem durch Subventionen ermöglicht. Die amerikanische Rhodium Group schreibt in einem Bericht, die chinesische Regierung habe den Chipausbau in den vergangenen zehn Jahren mit über 150 Milliarden Dollar subventioniert. Und für die kommenden Jahre seien weitere 22 Milliarden eingeplant.
Amerikanische Politiker sind ob der Kombination aus Kapazitätsausbau und enormen Subventionen alarmiert. Einige ziehen Parallelen zum Niedergang der westlichen Solarindustrie oder zum Heranwachsen der chinesischen Elektroautobranche. Die Politiker fürchten, dass chinesische Produzenten dereinst den globalen Markt mit billigen Legacy-Chips fluten. Und westliche Hersteller aus dem Markt gedrängt werden.
Die Angst gipfelt in der Vorstellung, dass die USA und Europa bei Chips für Autos, Flugzeuge, Industriemaschinen oder Haushaltsgeräte abhängig werden von China. Man wäre abhängig von einem Land, das man als Gegner oder mindestens strategischen Rivalen betrachtet, bei etwas, das essenziell ist für viele Wirtschaftszweige und Lebensbereiche. Und China könnte diese Abhängigkeit je nach Szenario als Druckmittel einsetzen oder westlichen Ländern manipulierte Chips liefern.
Warnung vor Marktverzerrung ist irreführend
Die Entwicklungen im Bereich der Legacy-Chips sind jedoch deutlich komplexer als von der amerikanischen Handelsministerin Raimondo dargestellt. Raimondos Warnung vor Marktverzerrungen suggeriert, es gebe nur einen einzigen Markt für Legacy-Chips. Tatsächlich ist der Terminus ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von Chips, die in verschiedensten Bereichen verwendet werden. Statt einen Markt gibt es zahlreiche. Und in jedem Markt sind die Dynamiken von Angebot und Nachfrage andere.
Vor Überkapazität von Legacy-Chips zu warnen, lässt folglich die Diversität der Chips ausser acht. Das gelte ebenso, wenn Produktionskapazitäten einzelner Länder aggregiert würden, schreibt der Chipexperte Paul Triolo in einer Analyse für das Center for Strategic & International Studies. Zudem sind Hersteller von Legacy-Chips hochgradig spezialisiert. Sie arbeiten eng mit Kunden zusammen und richten sich beim Produktionsvolumen nach deren Bedürfnissen. Das Geschäftsmodell der Produzenten sei darauf ausgelegt, Überkapazitäten zu vermeiden, so Triolo. Die enge Zusammenarbeit und langfristige Verträge zwischen Chipherstellern und ihren Kunden machen es zudem unwahrscheinlich, dass chinesische Lieferanten westliche rasch verdrängen.
China will unabhängiger werden vom Westen
Experten wie Triolo oder Kleinhans sehen statt der Verdrängung westlicher Unternehmen einen anderen Grund für den chinesischen Kapazitätsausbau: Die chinesische Regierung will unabhängig werden von westlicher Technologie. Denn heute ist China bei zahlreichen Legacy-Chips immer noch abhängig vom Westen. Die amerikanischen Exportkontrollen bei Hightech-Chips haben China empfindlich getroffen und technologische Autarkie in den Fokus der chinesischen Regierung gerückt.
Gemäss Triolos Analyse gehen heute fast 80 Prozent der Chips von Chinas grösstem Hersteller SMIC an chinesische Kunden. Bei Hua Hong, Chinas zweitgrösstem Produzenten, sind die Zahlen ähnlich. Und die Nachfrage nach Legacy-Chips wird in China in den nächsten Jahren weiter steigen. Werden die Kapazitäten wie geplant ausgebaut, werden chinesische Produzenten 2030 90 Prozent der heimischen Nachfrage bedienen können.
Die Nachfrage nach Legacy-Chips wächst weltweit
Die westlichen Ängste vor Marktverzerrungen durch chinesische Unternehmen im Bereich der Legacy-Chips scheinen unbegründet. Überkapazitäten von chinesischen Chipproduzenten sind unwahrscheinlich angesichts der wachsenden Nachfrage in China und dem Rest der Welt. Wahrscheinlicher scheint eher, dass westliche Chiphersteller in China Marktanteile verlieren. Schliesslich strebt China nach technologischer Autarkie und verbietet vermehrt Chips von westlichen Herstellern.
Die Welt wird in den kommenden Jahren immer mehr Legacy-Chips brauchen. Die europäischen und amerikanischen Hersteller sollten also kaum in ihrer Existenz bedroht sein. Vielmehr sollten sie zusehen, dass sie von der steigenden Nachfrage profitieren können.