Der israelische Ministerpräsident hat nach fast fünf Monaten Krieg immer noch keinen konkreten Plan, was mit Gaza geschehen soll. Das Resultat ist Anarchie im Küstenstreifen und eine zunehmende Entfremdung zwischen ihm und den USA. Eine Analyse.
Der Gaza-Krieg ist nicht nur ein Kampf zwischen Israel und der Hamas, sondern auch einer um Narrative und Fakten. Am Donnerstag ereignete sich im nördlichen Gazastreifen ein Blutbad. Tausende ausgehungerte Palästinenser stürmten einen Hilfskonvoi. Nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums starben 118 Menschen, mehrere hundert wurden verletzt. Laut der palästinensischen Seite und einigen Augenzeugen eröffnete die israelische Armee das Feuer und löste eine Massenpanik aus.
Israel bestreitet das. Ein Militärsprecher sagte am Sonntag, dass die meisten Menschen laut einer Untersuchung der Streitkräfte entweder totgetrampelt oder überfahren wurden. Laut dem Militär brach die Massenpanik erst aus, als Menschenmassen die Lastwagen einkreisten. Nur rund zehn Menschen seien durch Schüsse getötet worden, nachdem eine Menge sich israelischen Soldaten genähert und diese gefährdet habe.
Eins ist nach dem Vorfall allerdings klar: Die humanitäre Lage im nördlichen Gazastreifen ist katastrophal. Die USA haben darauf bereits reagiert und in einem bemerkenswerten Schritt am Samstag mit eigenen Militärmaschinen 38 000 Mahlzeiten über Gaza abgeworfen. Offenbar vertrauen die Amerikaner nicht mehr darauf, dass Israel es schafft, genug Hilfsgüter über den Landweg in den Küstenstreifen zu bekommen.
Netanyahu verliert das Vertrauen der USA
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu entfremdet sich von den USA, weil er nicht gewillt ist, die humanitäre Not im Gazastreifen in dem Ausmass zu lindern, das US-Präsident Joe Biden für notwendig hält. «Die Hilfslieferungen aus der Luft sind peinlich für Israel», sagt Michael Milshtein von der Universität Tel Aviv. «Die amerikanische Regierung hat offenkundig den Glauben verloren, dass Israel es schafft oder gewillt ist, irgendein nachhaltiges Regime in Gaza zu etablieren», meint der einstige Leiter der Palästina-Abteilung im israelischen Militärgeheimdienst.
Bereits im Dezember prophezeite ein hochrangiger amerikanischer Politiker, was sich vor wenigen Tagen in Gaza abgespielt hat. «Sollte nicht genug humanitäre Hilfe nach Gaza kommen, werden wir Plünderungen und den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung erleben», sagte der amerikanische Aussenpolitiker in einem Hintergrundgespräch für Journalisten. Die USA wirkten daher auf Israel ein, damit es alle Grenzübergänge für Nahrungsmittellieferungen öffne.
Drei Monate später ist das nicht geschehen – und Washington hat die Geduld verloren. Der Abwurf von Hilfsgütern soll der erste von vielen sein. Denn bis anhin gelangt die Hilfe aus Israel nur über den Grenzübergang Kerem Shalom, der regelmässig von rechten Aktivisten blockiert wird. Das Militär und die Polizei tun nur wenig dagegen. Auch über Rafah an der ägyptischen Grenze kommen Hilfslieferungen in den Gazastreifen.
Dass Biden nicht mehr auf ein Einlenken Netanyahus hofft, zeigt sich auch an einem besonderen Besuch. Benny Gantz, Mitglied der seit Kriegsbeginn amtierenden Einheitsregierung und der stärkste Rivale von Netanyahu, brach am Samstagabend nach Washington auf. Dort wird er am Montag unter anderem die amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris treffen. Die Einladung zeige, wie unzufrieden man in Washington mit der Politik Netanyahus sei, sagt Milshtein. «Im Weissen Haus ist man nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über die aktuelle Regierung.» Netanyahu hat der Reise laut Medienberichten nicht zugestimmt.
«Eine Situation wie in Somalia»
Nicht nur hat die Gewalt um die Hilfslieferungen am Donnerstag ein Schlaglicht auf die humanitäre Katastrophe geworfen, sondern auch den grössten Schwachpunkt Netanyahus offenbart. Sein Nachkriegsplan für Gaza, den er vergangene Woche präsentierte, bleibt ein vage formulierter frommer Wunsch.
Laut Netanyahu soll Israel nach Kriegsende keine Regierungsverantwortung in Gaza übernehmen. Nicht näher definierte lokale Beamte sollen die zivile Ordnung in Gaza aufrechterhalten. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die die USA in der Verantwortung sehen wollen, erwähnte der Ministerpräsident in seinem Dokument nicht. «Ich weiss nicht, von wem Netanyahu da spricht», sagt der frühere Geheimdienstler Milshtein. Ausser der Hamas gebe es keinerlei Strukturen in Gaza, die eine Ordnung aufrechterhielten.
Der tödliche Aufruhr rund um den Hilfskonvoi im nördlichen Gazastreifen – wo die Hamas grösstenteils zerschlagen ist – zeigt, dass Gaza zunehmend ins Chaos stürzt. Milshtein ist der Ansicht, dass die Armee sich nicht grösstenteils aus dem Norden Gazas hätte zurückziehen dürfen, nachdem sie die Hamas-Strukturen zerstört habe. «Das Resultat dieser Strategie ist eine Situation wie in Somalia», sagt er. «Bewaffnete Gangs und Clans haben die Macht übernommen.»
Dieses Szenario war es, das die USA verhindern wollten. Sie haben daher schon früh darauf gedrängt, dass ein konkreter Plan für Gaza nach dem Krieg entworfen wird. Diesen bleibt Netanyahu bis jetzt schuldig – und strapaziert damit zusätzlich die Geduld im Weissen Haus.