Der amerikanische Präsident habe den russischen Kriegsverbrecher wie einen König empfangen, schreibt der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow. Das Gipfeltreffen in Alaska sei eine welthistorische Farce gewesen.
Später, als alles klargeworden war, ging das Münchner Abkommen von 1938, als Deutschland, Italien, Grossbritannien und Frankreich die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich festlegten, als «Münchner Verrat» in die Geschichte ein. Ich frage mich, wie man das Treffen von Trump und Putin in Anchorage in ein paar Jahren bezeichnen wird. Es scheint, dass es keinen oder kaum Verrat gab. Aber was es im Überfluss gab, war abgrundtiefe Schande.
Der erste Eindruck vom Treffen in Alaska: China könnte morgen schon Taiwan angreifen, am besten um vier Uhr morgens, wie es alle Hitler-Putins tun – und wird ungestraft davonkommen. Mittlerweile bleibt alles ungestraft. Was auch immer Sie an Verbrechen gegen das Völkerrecht begehen, man wird Ihnen den roten Teppich ausrollen, Ihnen applaudieren und Ihnen die Hand schütteln. Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist, dass Sie ohne Mittagessen dastehen.
Beide Seiten haben sich, wie zu erwarten war, in Alaska darauf geeinigt, auf einem toten Pferd herumzureiten. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun.
Was sich tun liesse
Trump kann etwa Druck auf die Ukraine ausüben, sie erpressen, indem er ihr die militärische und nachrichtendienstliche Hilfe streicht, und sie zwingen, ihre Gebiete aufzugeben, einschliesslich derer, die Russland nicht erobern konnte (oder niemals erobern können wird).
Putin könnte die Intensität der Angriffe verringern und warten, bis der amerikanische Präsident den Friedensnobelpreis erhält, und dann mit doppelter Kraft von vorne beginnen, um die verlorene Zeit aufzuholen.
Die USA könnten Russland weiterhin mit schlimmen Konsequenzen drohen, dann nochmals mit schlimmsten Konsequenzen und dann noch einmal mit noch schlimmeren Konsequenzen, aber niemals tatsächlich die in Aussicht gestellten Sanktionen verhängen.
Trump könnte sich auf seinen Lorbeeren ausruhen und zufrieden zusehen, wie das Recht des Stärkeren das Völkerrecht verdrängt, bis das Völkerrecht nur noch auf dem Papier existiert – ein Prozess, den er selber mit beschleunigt, indem er eine blutige Diktatur legitimiert und einem international gesuchten Verbrecher die Hand geschüttelt hat.
Trump könnte indes ernsthaft wütend auf Putin werden und endlich etwas unternehmen. Es kann nicht darum gehen, dem Kannibalen den Kiefer zu brechen, um ihn davon abzuhalten, weiterhin Menschen lebendig zu verspeisen, aber man könnte ihn zumindest so fest kneifen, dass er vor Schreck zusammenzuckt, oder die Fäuste so heftig vor ihm schwenken, dass er sich durch den entstehenden Luftwirbel erkältet.
Man kann Putins Versprechen glauben, die Ukraine nicht erneut anzugreifen – und die unzähligen Videos vergessen, in denen er dies vor dem Februar 2022 schon einmal versprochen hat. Man könnte von ihm diesmal eine schriftliche Beglaubigung verlangen, die Ukraine zu verschonen – und vergessen, dass es bereits einen schriftlichen Vertrag über die Staatsgrenze zwischen der Ukraine und Russland gibt, der 2003 von Putin persönlich unterzeichnet wurde. Man könnte Russland auffordern, die Garantie, seine Nachbarn nicht anzugreifen, in seine Verfassung aufzunehmen – und dabei vergessen, dass Artikel 15 Absatz 4 der russischen Verfassung Eroberungskriege bereits verbietet.
Wie dem auch sei, es scheint, dass sich nach der Schande von Anchorage die Atmosphäre des Krieges subtil zu verändern beginnt. Das Blatt scheint sich zu wenden – es könnte sein, dass der Krieg bereits seinen Höhepunkt erreicht hat und nun seinem Ende entgegengeht. Höchstwahrscheinlich einem üblen Ende, einem Ende bar jeder Moral, einem Ende, das alle Normen des Völkerrechts aushebelt und den Grundstein zu einem neuen gewaltigen Krieg legt. Einem Ende, das alle Diktatoren des Planeten dazu drängen wird, sich neue Territorien unter den Nagel zu reissen (schliesslich wird es keine Konsequenzen geben), und viele Noch-Nicht-Diktatoren ermutigen wird, Diktator zu werden – denn Diktatoren dürfen offensichtlich alles tun (je blutiger, desto besser), und wenn man das darf, fühlt es sich gut an.
Ohne jedes Mitgefühl
Ich sitze auf einer Bank an einer Trolleybus-Haltestelle in Charkiw. Hinter mir ist eine Metallwand, die an sechs Stellen von Granatsplittern durchsiebt ist. Die Splitter haben gezackte Löcher mit hervorstehenden Kanten hinterlassen. Jedes Loch ist etwa so gross wie ein Hühnerei. Egal, wie ich sitze, eines der Löcher befindet sich immer hinter meinem Rücken, und das macht mich nervös. Ich weiss, dass keiner, der zum Zeitpunkt der Explosion hier auf dieser Bank sass, unverletzt geblieben ist. Was haben diese Menschen der russischen Welt angetan? Warum tötet die russische Welt wahllos Leute in solch grosser Zahl – so leichthändig und ohne jedes Mitgefühl?
In der Region Donezk, wo derzeit die heftigsten Kämpfe stattfinden, ist die russische Taktik, ganze Waldgürtel mit den Leichen ihrer Soldaten zu füllen, zu einem Ende gekommen. Nun bewegen sich russische Infanteristen in Stosstrupps von zwei oder drei Personen. Sobald sie ukrainische Drohnen entdecken, legen sie sich auf den Boden und bedecken sich mit Decken, durch die keine Wärme dringt. Sie tragen fast nichts bei sich.
Wenn sie einen Halt einlegen, werfen Drohnen über ihnen die notwendige Ausrüstung ab. Auf ihrem Marsch durch Felder, Täler und Wälder bringen sie alle Zivilisten um, denen sie unterwegs begegnen – obwohl es sich dabei grösstenteils um russischsprachige Menschen handelt, die sie eigentlich schützen sollten. Viele von ihnen, die ganz ohne Reue gekillt werden, sind Sympathisanten der russischen Welt, sie harrten in der Frontzone aus, um auf die Ankunft der Russen zu warten. Warum tötet die russische Welt sie so leichtfertig?
Die Antwort auf diese Frage fand ich unerwartet, als ich die Autobiografie des berühmten russischen Schriftstellers Konstantin Simonow über die ersten Tage des «Grossen Vaterländischen Krieges» nach dem Angriff von Hitlers Truppen auf die Sowjetunion las. Darin erzählt Simonow von vielen schrecklichen Dingen, aber was mich besonders beeindruckte, war, wie leicht russische Soldaten Menschen töteten – nicht die deutschen Besetzer, denen sie noch gar nicht begegnet waren, nein, ihre eigenen Landsleute. Sie erschossen jeden, der keine Papiere vorzuweisen hatte, jeden, der es wagte, zu widersprechen, jeden, der ihnen verrückt schien.
Der junge Autor, dem man ein Gewehr in die Hand gedrückt hatte, tat ebenfalls mit. Was mich noch mehr bewegte, war die Tatsache, dass weder Simonow noch sonst jemand deswegen auch nur geringste Gewissensbisse hatte. Sie empfanden das als normal, so, wie es sein sollte. Es herrscht Krieg, also müssen Menschen sterben. Wir nehmen ein Gewehr und bringen sie um – nur für den Fall.
Es mag sein, dass die völlige Missachtung menschlichen Lebens ein bestimmendes Merkmal der russischen Welt ist. Das war schon immer so, das ist heute so, und es wird immer so sein, es geht nicht anders.
Heute zerstört die russische Welt ukrainische Städte und Dörfer, tilgt sie von der Landkarte, in der Überzeugung, uns damit einschüchtern und zur Unterwerfung zwingen zu können. Jeden Tag lässt die russische Welt Raketen und Bomben auf Orte regnen, die sie nicht erreichen kann, im Versuch, uns gefügig zu machen. Der Effekt ist das Gegenteil. Die Zerstörungen erzeugen keine Angst, sondern wecken Hass und Rachegelüste. Die Ukraine ist ein Land, das seit mindestens dreissig Jahren in Freiheit lebt, und kein freies Volk wird jemals Befreier willkommen heissen, die gekommen sind, es von seiner Freiheit zu befreien.
Jede Rakete, die auf die Köpfe friedlicher Menschen in der Ukraine fällt, zeigt diesen auf, was sie erwartet, wenn die russische Welt gewinnt: absolute Missachtung ihres Lebens.
Da die Geringschätzung menschlichen Lebens in der russischen Welt eine Konstante ist, hat die Ukraine damit nichts zu tun. Die Russen haben das Massaker in Butscha nicht begangen, weil Butscha in der Ukraine liegt, sondern weil sie töten durften und wussten, dass sie dafür nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Wenn diese Leute in Washington, Tokio oder Berlin töten dürften, würden sie es dort tun. Zweifelt jemand daran? Zuschlagen! Plündern! Zerstören! Später bauen wir es wieder auf, sogar noch besser! Töten! Frauen werden sowieso neue Kinder gebären!
Wenn sie in Moskau töten und plündern dürfen und sicher sein können, dafür nicht bestraft zu werden, werden sie Moskau in ein riesiges Butscha verwandeln. Geografie spielt hier keine Rolle.
Bei dem Treffen in Anchorage wurde Putin klar, dass er für das, was er tut, keinerlei Konsequenzen zu befürchten hat, dass er mit dem Mord an Millionen davonkommen würde. Er dürfte es also an der Zeit finden, darüber nachzudenken, wie man den gesamten Globus in ein gigantisches Butscha verwandeln kann – oder zumindest Europa.
Dieses Russland, dem alles vergeben und dem versichert wurde, dass es für seine Taten keine Konsequenzen zu gewärtigen habe, dürfte uns für immer erhalten bleiben.
Die Machenschaften Seiner Exzellenz
Putins Fehler besteht in der idiotischen Vorstellung, die Ukrainer mit Horror und Terror unterwerfen zu können. In Wirklichkeit provoziert dieser Ansatz jedoch nur noch zäheren, wenn auch verzweifelteren Widerstand und noch grösseren Hass, der auch nach dem Krieg nicht verschwinden wird, egal, wie dieser endet. Dieser Hass wächst mit jedem Tag des Krieges und wird über Generationen hinweg geschürt werden. Es handelt sich jedoch nicht um eine natürliche Feindschaft im Krieg, sondern auch um einen sinnlosen, ja oft absurden Hass, dessen schwarze Flamme jemand bewusst schürt.
Jemand hat auf Facebook ein Bild gepostet, das russische Schriftsteller wie Puschkin und Dmitri Bykow dabei zeigt, wie sie Putin unterwürfig die Füsse küssen. Puschkin lebte vor zweihundert Jahren, und Bykow ist heute einer der schärfsten Gegner Putins. Dmitri Bykow ist ein Mann, der von denselben Leuten vergiftet wurde, die auch Nawalny vergiftet haben, und zwar mit derselben Substanz. Der Auftraggeber beider Attentate ist derselbe: Seine Exzellenz, zu dessen Ehren amerikanische Soldaten in Anchorage auf Knien den roten Teppich ausrollten.
Dass Dmitri Bykow Putin die Füsse küsst, ist unsinniger als ein rundes Quadrat oder ein hölzernes Eisen, doch dieses Bild hat viele Likes bekommen. Diejenigen, die ihre Zustimmung ausgedrückt haben, folgen der Logik: Es gibt keine guten Russen. Sie existieren nicht, Punkt.
Der Fehler der Ukraine besteht darin, der idiotischen Idee anzuhängen, dass «ein Russe schuldig ist, einfach weil er Russe ist». Das ist eine primitive Logik, die in Kriegszeiten viele für nützlich halten. Das Problem ist nur, dass all diese Russen, unter denen es keine Guten gibt und auch keine geben kann, immer unsere Nachbarn bleiben werden. Sie werden nicht alle von alleine aussterben wie die Dinosaurier, und es gibt 140 Millionen von ihnen.
Wir werden sie hassen, und sie werden uns hassen. Je mehr wir sie hassen, desto mehr werden sie uns hassen. Je mehr sie uns hassen, desto mehr werden wir sie hassen und desto mehr werden sie uns wieder hassen. Es ist ein Teufelskreis des Hasses, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Es ist dies ein Damoklesschwert, das auf beiden Seiten geschärft wird, damit es, Gott bewahre, nicht stumpf wird. Das ist die Realität, in der wir, unsere Kinder und wohl auch unsere Enkelkinder leben müssen. In Zukunft vielleicht, in vielen, vielen Jahren, wird dieser Teufelskreis von demjenigen der beiden Erzfeinde durchbrochen werden, der sich als der Klügere erweist.
Haben Sie eine Ahnung, wie ein verbranntes zweijähriges Kind aussieht? Wie eine Puppe aus Asche, und es atmet nicht mehr, obwohl die Rettungskräfte versuchen, ihm durch seinen blutüberströmten Mund Sauerstoff einzublasen. Das ist das Verbrechen, das Seine Exzellenz Herr Putin zwei Tage nach Anchorage in Charkiw mit seinen Raketen um fünf Uhr morgens beging, nachdem er Trumps roten Teppich beschritten hatte – in der Farbe ukrainischen Blutes. Das ermordete Mädchen trug den Namen Mia. Soll man es als Glück bezeichnen, dass Mias Mutter, ihr Vater, ihr älterer Bruder und ihre Grossmutter mit ihr zusammen ums Leben kamen?
Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.