Miguel Rodrigo Mazuré
Der «Atlas of Never Built Architecture» versammelt über 300 nie realisierte Bauvorhaben aus aller Welt. Es ist ein Buch der bizarren Megaprojekte.
Architekten wollen bauen. Dafür zeichnen sie ihre Pläne. Doch viele bleiben auf dem Papier. Weil sie zu teuer sind. Weil der Bauherr abspringt. Weil der Zeitgeist dreht. Vor zwei Jahren blickte eine Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel auf die ungebaute Schweiz. Der «Atlas of Never Built Architecture» von Phaidon Press versammelt nun über 300 nie realisierte Bauprojekte aus aller Welt, nach Kontinenten gruppiert. Es sind die grossen Träume vieler Architekten von Abu Dhabi bis Zagreb: futuristische Grosssiedlungen, riesige Wolkenkratzer, endlos sich wiederholende Modulbauten.
Die Geschichte wird geschrieben von den Siegern, heisst es. In der Baukunst also von den Architekten, die den Auftrag erhalten haben. Sam Lubell und Greg Goldin haben sich auf die Schatzsuche gemacht nach einer «alternativen Realität», wie sie schreiben. Entstanden ist ein Sammelsurium der visionären Ideen, zeitlosen Utopien und bizarren Megaprojekte der letzten hundert Jahre. Der Fokus liegt nicht auf den Bauvorhaben, die in der Architekturgeschichte viel zitiert werden, sondern auf den Überraschungen: von einem Flughafen auf der Seine in Paris bis zu einem eierförmigen Centre Pompidou.
Eines der waghalsigsten Projekte stammt von Frank Lloyd Wright. 1956, im Alter von 89 Jahren, präsentierte er in Chicago seinen Entwurf für den Mile-High Tower, der sich nach oben stetig verjüngt. Auf 528 Geschossen sollten 100 000 Personen wohnen. Der Architekt wollte verdichtet bauen, um möglichst viel Land frei zu lassen in seiner Idee der Broadacre City. Er fand nie einen Bauherrn oder eine Parzelle für das Projekt. Einfluss hatte es dennoch, wie die Ähnlichkeit des Entwurfs zum Burj Khalifa in Dubai offenkundig macht. Auch gescheiterte Pläne können die Realität prägen.
Kunstmuseum als umgekehrte Pyramide
Das kilometerhohe Hochhaus ist das Symbol schlechthin der überbordenden Architektur. Auch für unter den Boden wurden indes kühne Pläne geschmiedet. Jean Nouvel wollte in Seoul ein Kunstzentrum als Bergmassiv bauen. Kengo Kuma konzipierte in Manila ein Museum mit einem begrünten Atrium, das aus dem Gebäudeblock ausgehöhlt war. Eine wortwörtliche Höhlenarchitektur plante Jørn Utzon 1968 in Jeita in Libanon, wo er in einer Tropfsteinhöhle eine Bühnenstruktur entwarf, die, rot, orange und gelb angeleuchtet, an Dantes Inferno erinnert.
Die Eingriffe in die Landschaft wären oft massiv gewesen. An manchen Orten kann man froh sein, dass die Projekte nicht realisiert wurden. So plante Miguel Rodrigo Mazuré 1969 in den Bergen von Machu Picchu in Peru ein Hotel, das dramatisch über den Hang auskragt. Offensichtlich zeigte er nicht viel Sensibilität für die berühmte Inka-Stätte. In Caracas träumte Oscar Niemeyer 1955 von einem Kunstmuseum, das er als umgekehrte Pyramide auf einem Kliff positionierte. Venezuelas Ölboom hatte die finanziellen Grundlagen für solche Wunschträume geschaffen. Doch die demokratische Regierung hatte nach dem Abgang des Diktators Marcos Pérez Jiménez 1958 kein Interesse an so viel Monumentalität.
Das Buch bietet einen famosen Überblick über die Architekturepochen des 20. Jahrhunderts, deren Eigenheiten anhand der extremen Projekte besonders herausstechen. Viele Ideen des Strukturalismus wurden nicht realisiert, sie waren schlicht zu gross. Die Beispiele reichen von Kenzo Tange und seinen Superstrukturen in den sechziger Jahren bis hin zum niederländischen Architekturbüro MVRDV, das 2004 in China eine Stadt aus 2700 kistenförmigen Modulen zwischen Hügel bauen wollte.
Auch der Dekonstruktivismus, der alle Regeln der Architektur infrage stellte, blieb oft ungebaut. Daniel Libeskind ist mit mehreren Gebäuden vertreten, die den Raum fast vollständig auflösen. Die Architektin Zaha Hadid ging mit ihren formalistischen Projekten ebenfalls über die Grenzen des Realisierbaren hinaus: Aus ihren Ideen für ein geschwungenes Opernhaus auf einer Insel in Dubai oder für einen Wald mit Hochhäusern in Kairo wurde nichts.
Von der Handskizze bis zum Rendering
Der Atlas zeigt über 300 Projekte mit noch mehr Illustrationen. Es ist ein Bilderbuch. Und damit eine Publikation über die Darstellung von Architektur mit Modellen, Zeichnungen, Renderings oder Skizzen. Schwarz-weisse oder bunt ausgeschmückte Handzeichnungen dominierten bis in die achtziger Jahre, bevor der Computer mit polierten Renderings übernimmt. Neben den Bildern ordnen informative Texte die Projekte im Werk und in der Zeit auf wenigen Zeilen ein. Auf solche Weise spricht Architekturgeschichte, auch die nicht gebaute, ein breites Publikum an.
Der Atlas ist ein Buch der Hauptstädte wie London, Berlin oder Paris, wo die Pläne nicht grossspurig genug sein konnten. Es ist ein Buch der Hochkonjunktur, in der das Geld der Wirtschaft sprudelte und neue Konstruktionen ermöglichte. Und es ist ein Buch der westlichen Stararchitekten wie Le Corbusier, Louis Kahn oder Norman Foster, die an ihrem Schreibtisch die grossen Skizzen für andere Weltgegenden zeichneten und hofften, ihr Einfluss werde die Realisierung ermöglichen. Daneben kommen aber auch weniger berühmte lokale Architekten vor, die Grosses vorhatten in Indien, in Kongo oder in Kolumbien.
Auch Schweizer Ideen sind im Buch vertreten, darunter Justus Dahindens Entwurf für ein Theaterboot in Zürich oder der Plan von Morphosis für einen 380 Meter hohen Hotelturm in Vals. Der Tourismus ist schon lange ein Treiber der hochtrabenden Architektur. André Gaillard zeichnete nicht weniger als dreiundzwanzig Türme mit Ferienwohnungen in Aminona im Wallis. Nur drei wurden errichtet. Im benachbarten Crans-Montana entwarf er 1968 einen weiteren Turm als Mischung zwischen Hochhaus und Chalet. Realisiert wurde auch dieser nicht, dafür zahlreiche Jumbo-Chalets in vielen Schweizer Alpenferienorten.
Warum bleiben die Projekte auf dem Papier? Viele waren schlicht zu megaloman, um die Finanzierung zu sichern oder öffentliche Unterstützung zu erhalten. Andere Projekte scheiterten am Zeitgeist, der gedreht hatte. Oft verunmöglichen politische Umbrüche oder das letzte Wort des Volks die Realisierung. Bei vielen Projekten überrascht dies nicht. Heute scheint die Zeit der grossen Ideen endgültig vorbei zu sein. Man spricht von Suffizienz, CO2-Reduktion und Energiesparen. Und doch braucht es mutige, zukunftsweisende Pläne. Um den Diskus zu verändern, um die Architektur voranzubringen und nicht zuletzt auch um die Baukunst ein wenig träumen zu lassen.
Atlas of Never Built Architecture. Phaidon Press, New York 2024. 150 Dollar.