Am 9. Juni stimmt die Schweiz über die Initiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ab. Die Annahme hätte wohl zur Folge, dass bei künftigen Pandemien keine Zertifikatspflicht und ähnlichen Massnahmen mehr verfügt werden dürften. Aber die Forderungen der Vorlage gehen weit darüber hinaus.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Initianten wollen eine neue Bestimmung in der Bundesverfassung verankern: «Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person bedürfen deren Zustimmung. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden, noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.»
- Die Annahme hätte zur Folge, dass es bei künftigen Pandemien eine Zertifikatspflicht und ähnliche Massnahmen kaum mehr geben dürfte. Ausgeschlossen wäre dies wohl aber auch bei schlimmeren Krankheiten, beispielsweise Ebola. Und auch der Alkoholtest bei Polizeikontrollen wäre gemäss Wortlaut nicht mehr möglich.
- Die Befürworter argumentieren, die Grundrechte dürften nicht vom Impfstatus abhängig gemacht werden. Doch genau dies geschehe, wenn man als Ungeimpfter – wie während der Pandemie – vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werde.
- Die Gegner verweisen darauf, dass das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit bereits heute gelte. Es brauche das Volksbegehren deshalb gar nicht. Dieses sei zudem so allgemein und unverbindlich formuliert, dass staatliches Handeln noch in ganz anderen Bereichen eingeschränkt würde.
Noch bevor der erste Covid-Impfstoff im Winter 2020 von Swissmedic zugelassen wurde, startete ein aus Impfgegnern und -skeptikern bestehendes Komitee eine Volksinitiative mit dem Titel «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit». Die beiden Kernsätze lauten: «Eingriffe in die körperliche oder geistige Unversehrtheit einer Person bedürfen deren Zustimmung. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden, noch dürfen ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.» Verankert werden sollen sie in Artikel 10, Absatz 2bis der Bundesverfassung.
Auf den ersten Blick wirken die beiden Sätze wie eine Selbstverständlichkeit. In einem freiheitlichen Land kann grundsätzlich jeder und jede selber über medizinische Behandlungen entscheiden. So sieht es das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit schon heute vor. Es schützt den menschlichen Körper schon vor Einwirkungen durch den Staat. Es ist dabei unwichtig, ob die Einwirkung schädigend oder heilend ist: Man darf eine Operation ablehnen, selbst wenn dies zum eigenen Tod führt.
Dennoch hat es die Initiative in sich. Auch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit kann nämlich eingeschränkt werden, wenn es ein überwiegendes öffentliches Interesse gibt. Die Corona-Pandemie hat dies gezeigt: Zeitweise durften Personen, die sich nicht impfen oder testen liessen, keine Veranstaltungen und Restaurants besuchen – eine weitgehende Grundrechtsbeschränkung. Der Bundesrat argumentierte damals, dass sich die Schweiz in einer Ausnahmesituation befinde und die Zahl der Ansteckungen nur so reduziert werden könne.
Die Annahme der Volksinitiative hätte wohl tatsächlich zur Folge, dass bei künftigen Pandemien keine Zertifikatspflicht und keine ähnlichen Massnahmen mehr verfügt werden dürften. Dies gälte wohl auch für schlimmere Krankheiten mit hohem Sterberisiko, beispielsweise Ebola. Doch das ist schwer voraussehbar, weil die Initiative allgemein formuliert ist. Vieles hängt deshalb von der Umsetzung ab. Folgt man aber dem Wortlaut der Initiative, wären selbst Alkoholtests bei Polizeikontrollen nicht mehr möglich.
Die Initiantinnen und Initianten greifen ein bedeutsames Anliegen auf: Der Staat soll nicht diktieren können, wann Bürgerinnen und Bürger zum Arzt gehen. Dieses Prinzip muss auch für Impfungen gelten. Ein Impfzwang ist auch in versteckter Form nicht akzeptabel. Mit der Zertifikatspflicht während der Pandemie ging der Staat an die Grenzen des Zulässigen – und zeitweise darüber hinaus. Es müssen deshalb Lehren gezogen werden: Gefährlich wäre es, die Ausübung von Grundrechten künftig einzuschränken, wenn davon nicht das Leben oder die Gesundheit anderer abhängt.
So wichtig das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist: Wird es über alle anderen Interessen gestellt, wird der Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu stark eingeschränkt. Die bereits erwähnte Alkoholkontrolle ist dafür nur ein Beispiel. Straftaten können oft nur aufgeklärt werden, wenn Verdächtige zur Blutentnahme für die DNA-Analyse verpflichtet werden. Und das Abtasten des Körpers aus Sicherheitsgründen muss an Flughäfen oder in Fussballstadien weiterhin erlaubt sein. Solche Beispiele zeigen: Die Initiative schiesst in Bereichen über das Ziel hinaus, an die die Initiantinnen und Initianten kaum gedacht haben.
Doch selbst bei der Bekämpfung von Krankheiten und Epidemien muss der Staat handlungsfähig bleiben. Der Wortlaut der Initiative würde sogar die Pflicht von Tests zum Nachweis von allerschwersten Erkrankungen ausschliessen. Und öffentliche Pflegeheime oder Spitäler dürften Angestellte ohne Impfung möglicherweise auch nicht mehr auf eine Abteilung ohne Patientenkontakt verschieben. Das wäre ein schwerer Eingriff in die Handlungsfreiheit medizinischer Institutionen.
Die Grundrechte dürfen nicht vom Impfstatus abhängig gemacht werden: Das war das zentrale Argument, als Impfgegner und -skeptiker die Volksinitiative auf dem Höhepunkt der Pandemie lancierten. Bis heute steht dieser Grundgedanke im Vordergrund: Der Mensch sei nur frei, wenn er selber (und nicht die Politik) in Eigenverantwortung bestimmen könne, was in den Körper komme.
Doch genau dies sei so lange nicht der Fall, wie man als ungeimpfte Person vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden könne. Dasselbe gelte, wenn sich Pflegepersonal gegen den eigenen Willen impfen lassen müsse, um Patienten zu pflegen. Werde so hoher psychischer Druck ausgeübt, komme dies einem Impfzwang gleich.
Die Argumentation der Initiantinnen und Initianten hat sich teilweise allerdings verschoben. So machen sie im Abstimmungsbüchlein prominent auch auf die Gefahr des Einsatzes von Chip-Implantaten bei Arbeitnehmern aufmerksam. Das Europäische Parlament habe diese Thematik in einem Bericht beschrieben. Es sei deshalb zu befürchten, dass die WHO schon bald auch darüber entscheide.
Ausserdem verweisen die Befürworter der Initiative darauf, dass das geltende Recht vieles im Unklaren belasse. Eine neue Bestimmung in der Bundesverfassung führe zu mehr Rechtssicherheit. Das Parlament könne nach einer Annahme endlich gesetzlich festlegen, was körperliche Unversehrtheit bedeute.
Bundesrat und Parlament sind gegen die Initiative. Sie sagen, das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gelte bereits heute – auch beim Impfen: Niemand dürfe zwangsweise und ohne Zustimmung geimpft werden, beispielsweise mit polizeilicher Gewalt.
Impfobligatorien seien in Ausnahmesituationen zwar möglich. Etwa um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Doch die Hürden seien hoch: Es brauche eine gesetzliche Grundlage sowie ein überwiegendes öffentliches Interesse. Ausserdem müsse die Massnahme verhältnismässig sein.
Das Volksbegehren sei zudem so allgemein und unverbindlich formuliert, dass der Staat auch in anderen Bereichen eingeschränkt wäre – beispielsweise im Strafvollzug oder im Ausländer- und Asylbereich. Betroffen sein könnten beispielsweise die Erhebung biometrischer Daten oder körperliche Eintrittsdurchsuchungen bei Gefangenen.
Umgekehrt sei nicht eindeutig, ob alle Ziele der Initiantinnen und Initianten erreicht würden. Dies, weil die Grundrechte das Verhältnis zwischen Bürgern und dem Staat regelten, nicht aber das zwischen Privaten. Somit sei – mangels staatlichen Eingriffs – fraglich, inwiefern die Initiative Impfnachweise im privaten Bereich verbieten könnte. Die Initiative erwecke deshalb Erwartungen, die sie nicht erfüllen könne.
Die NZZ lehnt die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ab. Zwar legen die Initiantinnen und Initianten den Finger auf einen wunden Punkt: Unter dem Eindruck der Pandemie wurde das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zeitweise strapaziert. Doch das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit existiert schon heute. Problematisch ist, dass die Volksinitiative weit über das Ziel hinausschiesst.