Muss der Bund beim Überschreiten einer Kostenschwelle in der obligatorischen Krankenversicherung künftig wirksame Gegenmassnahmen beschliessen? Das fordert eine Volksinitiative der Mitte-Partei. Die Stimmbürger entscheiden am 9. Juni.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Krankenkassenprämien steigen vor allem wegen des zunehmenden Konsums von Gesundheitsleistungen prozentual deutlich stärker als die Löhne und die Gesamtwirtschaft. Viele Akteure haben Fehlanreize, so dass jährlich Milliarden verschwendet werden. Die Initiative der Mitte-Partei fordert eine Kostenbremse: Beim Überschreiten eines bestimmten Schwellenwerts müsste der Bund künftig wirksame Gegenmassnahmen ergreifen.
- Die Art der Gegenmassnahmen lässt die Initiative offen. Im Vordergrund dürften Eingriffe in die Tarife etwa für Ärzte und Spitäler stehen. Die Gegner wie etwa die Verbände der Ärzte und der Spitäler warnen vor einer «Rationierung» im Gesundheitswesen.
Die Vorlage im Detail
Viele Bürger beklagen sich in Umfragen über die hohen Krankenkassenprämien. Diese Prämien spiegeln die hohen Kosten der Versicherungen für Gesundheitsleistungen. Von 2000 bis 2022 haben sich in der obligatorischen Krankenversicherung vor allem wegen des Mehrkonsums die Kosten pro Versichertem verdoppelt (plus 104 Prozent), und das Gleiche gilt für die mittlere Prämie (ebenfalls plus 104 Prozent). Die Schweizer Wirtschaftsleistung pro Einwohner hat im gleichen Zeitraum «nur» um nominal 36 Prozent zugelegt. Die starke Kostensteigerung im Gesundheitswesen liegt grösstenteils nicht an Preiserhöhungen für unveränderte Leistungen, sondern am laufenden Ausbau des Konsums in Form von mehr Behandlungen beziehungsweise an teureren Behandlungsmethoden. Die Volksinitiative der Mitte-Partei verlangt eine Kostenbremse.
Was das genau heisst, bleibt im Initiativtext offen. Laut dem Text regelt der Bund in Zusammenarbeit mit Kantonen, Krankenversicherern und Leistungserbringern die Kostenübernahme so, dass sich «mit wirksamen Anreizen die Kosten entsprechend der schweizerischen Gesamtwirtschaft und der durchschnittlichen Löhne entwickeln». Der Bund führe dazu «eine Kostenbremse» ein. Die Einzelheiten habe das Gesetz zu regeln.
Die Initianten wollen mit ihrem Vorstoss vor allem Spardruck ins Gesundheitswesen bringen, das bis anhin durch Fehlanreize der meisten Akteure von den Ärzten über die Spitäler und die Kantone bis zu den Patienten geprägt ist. Denn mehr Leistungen heissen für die Anbieter mehr Umsatz, und die Patienten können einen Grossteil der Zusatzkosten an die Allgemeinheit (sprich: die Gesamtheit der Prämien- und Steuerzahler) abwälzen.
Der Kern liegt in den «Einzelheiten». Die erste Kernfrage: Ab wann soll die Kostengrenze greifen? Die erwähnte Messlatte einer Kostenentwicklung «entsprechend der Gesamtwirtschaft und den durchschnittlichen Löhnen» ist unklar. Die Initianten betonten bei der Lancierung, dass die Gesundheitskosten weiterhin prozentual stärker wachsen dürften als die Löhne, aber «nicht massiv stärker». Einen konkreteren Hinweis liefert die Übergangsbestimmung des Initiativtexts: Wenn die Durchschnittskosten pro Versichertem in der obligatorischen Krankenversicherung zwei Jahre nach Annahme der Initiative über 20 Prozent stärker steigen als die Durchschnittslöhne, «so ergreift der Bund in Zusammenarbeit mit den Kantonen Massnahmen zur Kostensenkung, die ab dem nachfolgenden Jahr wirksam werden».
Dies hiesse: Wenn die Löhne zum Beispiel um 1 Prozent zulegen, aber die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung um mehr als 1,2 Prozent wachsen, muss der Bund nach Konsultation der Kantone wirksame Kostendämpfungsmassnahmen ergreifen. Das ist eine äussert forsche Kostenschwelle. In den vergangenen Jahrzehnten sind die Kosten in der Krankenversicherung meistens mehr als ein Fünftel stärker gewachsen als die Löhne. Von 2000 bis 2022 legte der nominale Lohnindex der Bundesstatistiker (der die Lohnentwicklung tendenziell unterschätzt) im Mittel nominal um rund 1 Prozent pro Jahr zu. Der Durchschnittslohn wuchs gemäss Daten der ETH Zürich um 1,5 Prozent pro Jahr. Die Kosten der Krankenkassen pro Versicherten wuchsen dagegen um 3 Prozent pro Jahr – also um das Doppelte bis Dreifache der Löhne.
Die Kosten im Gesundheitswesen wachsen zum Teil «natürlicherweise» stärker als die Gesamtwirtschaft und die Durchschnittslöhne. Dies liegt am steigenden Wohlstand (der bis zu einem gewissen Grad die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen überproportional erhöht), an der Alterung der Gesellschaft sowie am technischen Fortschritt (der im Gesundheitswesen oft zu teureren Behandlungen führt). Die breiten Fehlanreize im System liefern zudem den Humus, der die laufende Ausweitung der Leistungen erleichtert.
Die Initianten begründen die restriktive Kostenschwelle in der Übergangsbestimmung damit, dass es zurzeit viel Verschwendung im System gebe und deshalb durch die Ausmerzung überflüssiger Leistungen eine unterdurchschnittliche Kostenentwicklung möglich sei. Diese Argumentation würde eine Umsetzung zulassen, bei der die genannte strenge Kostenschwelle gemessen an der Lohnentwicklung nur in einer Übergangsphase gälte, danach sei eine andere (auch flexiblere) Schwelle möglich. All dies lässt der Initiativtext offen.
Diverse Expertenberichte lassen mutmassen, dass vielleicht etwa 10 bis 20 Prozent der Gesundheitsleistungen Verschwendung sind. Die Initianten nannten und nennen als mögliche Beispiele «unnötige» Operationen etwa an Meniskus oder Schulter, das Ausmass der Physiotherapien und den wirtschaftlichen Zwang zur hohen Auslastung teurer Geräte für Ultraschall-, Computer- und Magnetresonanztomografie. Die Frage ist allerdings, wie man mit Sparmassnahmen unnötige Leistungen wegschneiden kann, ohne sinnvolle Leistungen zu treffen.
Welche Massnahmen der Bund beim Überschreiten der Kostenschwelle ergreifen müsste, lässt der Initiativtext ebenfalls offen. Die von Gegnern befürchtete Rationierung etwa nach dem Motto «Ab November wird keiner mehr bedient» ist aber unwahrscheinlich. Im Vordergrund dürften Eingriffe des Bundes in die Tarifverträge namentlich für Ärzte und Spitäler stehen – etwa nach dem Motto: «Wo die Kosten aus nicht gut erklärbaren Gründen besonders stark gestiegen sind, sinken in der Folge die Tarife.»
Der Bundesrat hatte 2021 als Gegenvorschlag zur Initiative die Festlegung eines jährlichen Kostenziels mit der Prüfung von Massnahmen bei Überschreitung vorgeschlagen. Laut dem Vorschlag gäbe es ausgehend von einem Kostenziel für die gesamte obligatorische Krankenversicherung zusätzlich Kostenziele für die einzelnen Bereiche und Kantone. Die Höhe der tolerierten Kostensteigerung würde jedes Jahr neu festgelegt. Das Parlament hat im Herbst 2023 eine Gesetzesänderung als Gegenvorschlag zur Initiative verabschiedet, dabei aber ein zentrales Element des Regierungsvorschlags herausgenommen: Es kippte die vom Bundesrat vorgesehene Verpflichtung zur Prüfung von Massnahmen beim Überschreiten der Kostenziele. Zudem mutierte die Vorgabe von jährlichen Kostenzielen zu einer Vorgabe von Kosten- und Qualitätszielen für die jeweils folgenden vier Jahre.
Der Gegenvorschlag sieht zudem auch die Einsetzung einer Kommission für die Überwachung von Kosten und Qualität vor. Bei Bedarf soll die Kommission dem Bund und den Tarifpartnern geeignete Massnahmen empfehlen. Bei einem Volks-Nein zur Kostenbremse-Initiative würde der Gegenvorschlag in Kraft treten, sofern es kein erfolgreiches Referendum dagegen gibt.
Für die Initiative kämpft vor allem die Mitte-Partei. Die Krankenkassen sind derweil gespalten. Der Branchenverband Santésuisse sprach sich nach anfänglich kritischer Einschätzung zuletzt für den Volksvorstoss aus, der Verband Curafutura lehnt ihn dagegen ab. Die Befürworter sehen die Initiative vor allem als starkes Signal an die Akteure im Gesundheitswesen zur Kosteneindämmung. Laut den Befürwortern braucht es das Instrument einer Kostenbremse, weil sonst die Gesundheitskosten angesichts der verbreiteten Fehlanreize der Akteure zur ständigen Mengenausdehnung weiter so stark wachsen würden, bis es fast zwangsläufig zu einer Zweiklassenmedizin kommt.
Im Parlament hatten alle Parteien mit Ausnahme der Mitte die Volksinitiative abgelehnt. Massive Kritik kommt vor allem von gewichtigen Anbietern im Gesundheitswesen, namentlich den Verbänden der Ärzte sowie der Spitäler. Auch die Kantone lehnen die Initiative ab. Die Kritiker warnen vor Rationierung und vor einer Zweiklassenmedizin. Für Kritik sorgt auch das starre Kostendach in der Übergangsbestimmung, die Lohnentwicklung als ungenügender Vergleichsmassstab sowie die Unklarheit darüber, was bei einem Überschreiten des Kostendachs passieren würde.