Jochen Eckel / Imago
Das Schicksal von Wolfsburg ist untrennbar mit jenem von Volkswagen verbunden, entsprechend ist die Stimmung in der Auto-Stadt. Die deutsche Automobilindustrie muss sich fundamental neu ausrichten, ihre Angestellten müssen wieder leistungsbereiter werden. Ein Besuch an einem Ort zwischen Ernüchterung und Kampfeslust.
Der Geburtsort von Rolf Schnellecke ist eine Rarität: «Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben, j. Wolfsburg» steht im Personalausweis des 80-Jährigen. Er kam am 12. September 1944 zur Welt. Die Nazis hatten das Land um das Schloss Wolfsburg zuvor 1938 als Sitz des Volkswagen-Werks ausgewählt. Der Ort wurde erst nach dem Krieg in Wolfsburg umbenannt. Bei der Gründung war er als Heimat für die Mitarbeiter der Autofabrik gedacht, in dem der KdF-Wagen (KdF stand für Kraft durch Freude) produziert werden sollte, der spätere VW Käfer.
Schnellecke ist Gesellschafter und Aufsichtsratsvorsitzender der Logistikfirma Schnellecke Group, die er von seinen Eltern übernommen hat. Die Firma beschäftigt heute knapp 18 000 Mitarbeiter und erzielte 2023 einen Umsatz von 1,45 Milliarden Euro. Rolf Schnellecke machte jedoch eine politische Karriere und war unter anderem ab dem Jahr 1995 der Oberstadtdirektor und von 2001 bis 2011 der Oberbürgermeister seiner Heimatstadt. Es gibt wohl niemanden, der Wolfsburg und die Verbindung der Stadt zu Volkswagen so gut kennt wie er.
Die VW-Krise ist das beherrschende Thema
«Die Krise des Konzerns ist hier das beherrschende Gesprächsthema», sagt Schnellecke bei einem Besuch im fast schon dörflich wirkenden Stadtteil Sandkamp im Westen des Volkswagen-Areals. Viele Häuser sind aus dem roten Backstein gebaut, der für Norddeutschland typisch ist. Von seinem hellen Büro im dritten Stock des Firmengebäudes blickt man auf Teile des VW-Werkes und die Hallen eines weiteren Zulieferers.
Wolfsburg wird durch den Mittellandkanal in eine Nord- und eine Südhälfte geteilt. Im Norden liegt das VW-Werk, das bis zur Eröffnung von Teslas fünfter Gigafactory in Texas als grösste Autofabrik der Welt galt. Die vier in Reih und Glied stehenden Schornsteine des VW-Kraftwerks sind mit ihren 125 Metern Höhe eine Art Wahrzeichen. Man sieht sie nicht nur als Erstes bei der Ankunft am Hauptbahnhof, sondern auch von vielen Stellen der Stadt aus, sogar an diesem trüben und nebligen Montag. Im Osten des Fabrikareals befinden sich die sogenannte Auto-Stadt von Volkswagen und das Freizeitgelände Allerpark.
Südlich des Mittellandkanals liegen direkt der Hauptbahnhof und dahinter die Innenstadt von Wolfsburg. «Die Unsicherheit der Menschen ist spürbar», sagt Schnellecke weiter. «Die persönlichen Sorgen sind sehr verständlich, denn viele Arbeiter und Angestellte haben immer gedacht, sie hätten einen Job auf Lebenszeit. Das steht jetzt infrage.»
Vor allem die Probleme der Kernmarke VW setzen dem Konzern derzeit zu. Sie erzielte im ersten Halbjahr nur noch eine Umsatzrendite von rund 2 Prozent, die schlechteste aller Marken im Konzern mit weiter fallender Tendenz. Sogar Seat/Cupra und noch viel mehr Škoda weisen eine zwei- bis dreimal so hohe operative Marge auf.
Die Kernmarke VW ist ein Sanierungsfall
Der Konzernchef Oliver Blume will mit der Kernmarke im Jahr 2026 eine Rendite von 6,5 Prozent schaffen, damit diese sich die dringend nötigen Investitionen in die Digitalisierung, die Elektromobilität und das teilautonome Fahren leisten kann. Deshalb haben Blume und der Markenchef Thomas Schäfer die seit 1994 geltende Job-Garantie gekündigt, streben Tausende betriebsbedingte Entlassungen an und erwägen die Schliessung von bis zu drei Fabriken der Marke VW in Deutschland.
In Wolfsburg könnte es Tausende Entlassungen geben. Darüber hinaus dürften auch die Einkommen der verbleibenden Mitarbeiter zurückgehen, denn VW will alle Löhne um 10 Prozent kürzen und Boni streichen. Die bisher aufgrund des lukrativen Haustarifvertrags im Vergleich mit anderen Firmen aus der Metallbranche vergleichsweise üppig dotierten Arbeiter und Angestellten der Marke VW dürften künftig also weniger Geld im Portemonnaie haben.
Die Angst vor sinkenden Einkommen hat bereits Folgen. Aufgrund der Unsicherheit halten die Menschen das Geld zusammen. Deutlich wird dies beispielsweise in der Reisebranche.
Bei mehreren Stippvisiten in innerstädtischen Reisebüros bestätigen Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand die Zurückhaltung der Kunden. Eine Reisekauffrau sagt: «Klar spüren wir die Krise des Konzerns, wir haben in Wolfsburg doch nur das.» Offiziell dürfen sie nach den vorherigen Besuchen anderer Journalisten nichts mehr sagen und verweisen an die Pressestelle oder die Regionalverantwortlichen der Unternehmen.
Auch beim täglichen Einkauf spart so mancher. Für Lebensmittel gehe er inzwischen eher mal zum Supermarkt, anstatt das Biogemüse auf dem Wochenmarkt zu holen, sagt ein Angestellter in der Auto-Stadt im Gespräch. Sie ist das Auslieferungszentrum für Neuwagen, das auch Restaurants, einen Freizeitpark, ein Museum sowie Ausstellungsflächen für die Marken des Konzerns umfasst.
Wolfsburg ist untrennbar mit Volkswagen verbunden. Wer den Bahnhof über die Porschestrasse in Richtung Fussgängerzone verlässt, sieht Reklamen der Audi-Betriebskrankenkasse und der VW-Konzernlogistik. Gleich um die Ecke leuchtet an einem Haus der Schriftzug «Volkswagen Immobilien». Wolfsburg hat 128 000 Einwohner und eine ähnliche Zahl an sozialversicherungspflichtigen Jobs, die meisten bei VW.
Die Stadt stellt keinen Gesprächspartner zur gegenwärtigen Lage zur Verfügung: Anfragen nur schriftlich. Doch selbst diese lässt die Pressestelle danach unbeantwortet.
Einst Zonenrandgebiet mit Monostruktur
Je weiter man sich in der Fussgängerzone vom Bahnhof entfernt, je trostloser wird der Anblick – und das liegt nicht nur am regnerischen Herbsttag. Die Innenstadt gleicht jener vieler im Krieg zerbombter deutscher Innenstädte mit ihrer spröden Zweckarchitektur der 1950er und 1960er Jahre. Doch Wolfsburg wurde gar nicht zerbombt, denn zur Zeit des alliierten Luftkriegs gegen deutsche Städte stand dort fast noch nichts. Einige Geschäfte vor allem am Ende der Fussgängerzone stehen leer und wirken verwahrlost, auch das ist heutzutage keine Seltenheit in mittelgrossen deutschen Städten.
Die Abhängigkeit der im östlichen Niedersachsen gelegenen Stadt vom Konzern war vor dreissig Jahren noch viel grösser. «Vor dem Mauerfall gehörte Wolfsburg aufgrund der Nähe zur DDR zum Zonenrandgebiet und wies aufgrund der Dominanz von Volkswagen als Arbeitgeber eine sehr starke Monostruktur auf», sagt Michael Wilkens, Leiter der Wolfsburger Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer (IHK).
Damals habe es im Vergleich mit ähnlich grossen Städten beispielsweise nur sehr wenige Jobs in der Gastronomie, im Hotelgewerbe oder im Tourismus gegeben. Das habe sich erst in den vergangenen dreissig Jahren sehr stark geändert, vor allem dank der Schaffung der Wolfsburg AG. Das ist ein 1999 gegründetes Gemeinschaftsunternehmen, das bis heute zu jeweils 50 Prozent der Stadt und dem Konzern gehört.
Peter Hartz und die Gründung der Wolfsburg AG
Volkswagen war Mitte der 1990er Jahre schon einmal in einer veritablen Krise, die noch Jahre fortwirkte. Damals galt noch mehr als heute: Wenn VW hustet, bekommt Wolfsburg die Grippe. Rolf Schnellecke war zu dieser Zeit Oberstadtdirektor, ein früher gängiges Amt, aus dem später jenes des Oberbürgermeisters wurde. «Die Arbeitslosigkeit in der Stadt hat 1997 in der Spitze 19 Prozent erreicht und war etwa so hoch wie in Gelsenkirchen im Ruhrgebiet», erzählt Schnellecke. Damals entfielen rund zwei Drittel aller Beschäftigten auf den Volkswagen-Konzern.
In der Stadt sei die Angst umgegangen, dass Wolfsburg den Weg der Autostadt Detroit in den USA gehe, die durch den Niedergang der amerikanischen Autoindustrie mit der Zeit selbst stark zerfallen sei.
Deshalb habe man sich nach einer Phase der Entfremdung zusammengerauft. «Es ist zum sogenannten Schulterschluss gekommen, und Volkswagen und die Stadt sind wieder enger zusammengerückt als in den Jahrzehnten zuvor», sagt Schnellecke. Die Vertreter der Stadt hätten an den damaligen Konzernchef Ferdinand Piëch appelliert, stärker Verantwortung für Wolfsburg zu übernehmen, da VW nur erfolgreich sein könne, wenn es der Stadt gut gehe. Damit seien sie bei Piëch glücklicherweise auf offene Ohren gestossen.
Das Handy von Rolf Schnellecke klingelt, nicht zum ersten Mal während unseres Gesprächs. Er vertröstet den Anrufer auf später und sagt: «Das war Peter Hartz.» Der Mann ist in Deutschland noch immer eine bekannte Grösse. Er war in den 1990er Jahren Personalvorstand bei Volkswagen, später zudem Berater des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und schliesslich Namensgeber der «Hartz-IV-Gesetze», mit denen Deutschland seinen Arbeitsmarkt mit der Strategie «fordern und fördern» erfolgreich reformierte.
«Das passt ja jetzt, denn Peter Hartz hat damals eine wichtige Rolle gespielt, er war ein Innovator», sagt Schnellecke. Hartz habe bei VW beispielsweise vorübergehend die Viertagewoche eingeführt und sei entscheidend an der Gründung der Wolfsburg AG beteiligt gewesen. Für diese Public-private-Partnership habe es zu jener Zeit kein Vorbild gegeben, die Wolfsburg AG sei später aber selbst zum Vorbild geworden. «Bis zum Jahr 2003 haben wir die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg halbiert, und die Gegend hat sich zu einer der dynamischsten Regionen Deutschlands entwickelt», erzählt Schnellecke stolz.
Allerpark, Bundesligisten und renommierte Museen
Die Wolfsburg AG spielt noch heute eine zentrale Rolle. Ihre Aufgabe ist es, die Attraktivität der Stadt zu stärken, um gut ausgebildete Arbeitskräfte nach Wolfsburg zu locken sowie Ansiedlungs- und Strukturpolitik zu betreiben. Sie ist in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Energie, Freizeit und Mobilität sowie in der Wirtschaftsförderung tätig und veranstaltet die Internationale Zuliefererbörse (IZB), eine der grössten Messen der Branche.
Die AG setzte zudem das mithilfe der Berater von McKinsey erarbeitete Autovision-Konzept zur Schaffung eines Automobil-Clusters und zur Erhöhung der Lebensqualität um, das Volkswagen der Stadt im Jahr 1998 zu ihrem 60. Geburtstag schenkte. Inzwischen hat das Unternehmen zahlreiche Beteiligungen, etwa an einer Zeitarbeitsfirma GmbH, der Gewerbeakademie, der Neuen Schule oder der Energieagentur.
Zu den Aufgaben gehört die Förderung von Freizeitangeboten, wobei vor allem der sogenannte Allerpark eine wichtige Rolle spielt. Er liegt idyllisch östlich des grossen Volkswagen-Areals zwischen dem Flüsschen Aller im Norden und dem Mittellandkanal im Süden und ist Heimat einer Indoor-Soccer-Halle und einer Wasserskianlage. Die grüne Lunge der Stadt umfasst nicht nur den Allersee, sondern ist auch die Heimat des Fussballstadions Volkswagen-Arena sowie einer Eissporthalle.
Ungewöhnliche Härte des Konflikts
Auch kulturell ist einiges passiert. Wolfsburg besitzt mit dem Kunstmuseum, dem Wissenschaftszentrum Phaeno und der im Jahr 2000 zur Expo in Hannover eröffneten Auto-Stadt weit über die Region hinaus bekannte Anziehungspunkte.
«Wolfsburg bietet für seine Grösse inzwischen viel», sagt Michael Wilkens von der IHK. Die Stadt müsse heutzutage sehr attraktiv sein, damit sich internationale Fachkräfte und inzwischen auch IT-Experten hier wohlfühlten und nicht in Berlin wohnten und nach Wolfsburg pendelten. Doch jetzt müsse Volkswagen erst einmal seine Krise bewältigen. Dabei seien die Härte und die Art und Weise des Konflikts im Vergleich zu früher schon aussergewöhnlich.
«Die Situation bei Volkswagen und in Wolfsburg ist mit jener Mitte der 1990er Jahre vergleichbar», findet Rolf Schnellecke. «Aber die Lage von Deutschland und der Welt ist anders.» Derzeit finde eine fundamentale Neuorientierung in der Automobilindustrie und zugleich auch in Deutschland statt. Zudem müssten die Menschen wieder leistungsbereiter werden. «Runter vom Sofa», sagt Schnellecke mit einem Lächeln etwas provokativ, «wenn nicht jetzt, wann dann?»
Ein Patentrezept für die Lösung des Konflikts zwischen Management und Betriebsrat habe er auch nicht. Es brauche eine ausgewogene Lösung und Zugeständnisse von beiden Seiten. Vielleicht seien jetzt auch wieder Innovationen und neue Wege gefragt, wie sie damals Peter Hartz initiiert habe. Wenn bei VW der gordische Knoten durchschlagen werde, könne dies auch eine Initialzündung für Deutschland sein. «Damals wie heute ist Volkswagen ein Brennglas für das Land.»
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