Der in Peking lehrende Ökonom Michael Pettis rechnet mit einer Ausweitung der globalen Handelskonflikte. China stosse mit der bisherigen Wachstumsstrategie an Grenzen, doch Peking gehe schmerzhaften Anpassungen aus dem Weg.
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«Chinas Wirtschaft hat gigantische Schräglage», sagte Jörg Wuttke, ehemaliger Präsident der EU-Handelskammer in China, Anfang Juli in diesem Interview. Die Stimmen mehren sich, die die Volksrepublik an einem ähnlichen Punkt sehen wie Japan zu Beginn der Neunzigerjahre.
Vergangene Woche fand in Peking das sogenannte Dritte Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei statt, an dem jeweils über die Wirtschaftspolitik beraten wird. Wer eine Ankündigung weitreichender Reformen oder grosser Stimulusprogramme erwartet hatte, wurde allerdings enttäuscht.
Wenige westliche Beobachter sind mit Chinas Wirtschaft und Finanzsystem besser vertraut als Michael Pettis. Der Amerikaner lebt seit mehr als zwei Jahrzehnten im Land und lehrt als Professor für Finanztheorie an der renommierten Guanghua School of Management der Peking University. Pettis sieht keinen einfachen Ausweg aus der konjunkturellen Flaute; die Krise im Immobiliensektor sei erst zur Hälfte durchgestanden. «Solange die Regierung nicht bereit ist, Schmerzen auf sich zu nehmen, wird es keine echte Lösung geben», sagt er im Interview mit The Market.
Herr Pettis, was ist Ihre erste Einschätzung zu den Ergebnissen des Dritten Plenums zur Wirtschaftspolitik Chinas?
Ich denke nicht, dass irgendjemand besonders überrascht war. Das Communiqué des Dritten Plenums war sehr vage in Bezug auf nachfrageseitige Massnahmen, mit denen die Rolle des Konsums als Motor der chinesischen Wirtschaft gestärkt werden soll. Es wird wiederum mehr Gewicht auf angebotsseitige Massnahmen gelegt, obwohl zunehmend anerkannt wird, dass der schwache Binnenkonsum das Haupthindernis für die chinesische Wirtschaft ist.
Chinas Konjunktur enttäuscht seit mehreren Quartalen. Was bremst sie?
Das Problem ist, dass es nicht wirklich klar ist, was Peking überhaupt unternehmen kann. Wenn man, wie von der Parteiführung vorgegeben, ein Wachstum von 5% erreichen will, ist entweder ein Anstieg der Investitionen oder ein Anstieg des Konsums nötig. Der Export kann in Form eines Handelsüberschusses zwar auch zum Wachstum beitragen, aber er macht nur 5 bis 6% des BIP aus und ist damit zu gering, um etwas zu bewirken.
Schauen wir uns die verschiedenen Optionen an. Was ist mit Investitionen?
Es gibt drei grosse Quellen für Investitionen: Erstens der Immobiliensektor. Dieser steckt in der Krise, und die Regierung kann wenig tun, um die Krise zu stoppen. Zweitens: Investitionen in die Infrastruktur. Diese stellen ein noch grösseres Problem dar als der Immobiliensektor. Die Zentralregierung möchte sie eindämmen, weil sie erkannt hat, dass ein Grossteil der Fehlinvestitionen und der Verschuldung auf kommunaler Ebene auf nutzlose Infrastruktur zurückzuführen ist. Drittens, und das war die grosse Hoffnung Pekings: Investitionen in den Produktionssektor. Das Problem dabei ist aber Chinas Grösse. Ein kleines Land kann problemlos seine Produktion und seinen Export ausweiten, ohne die ganze Welt gegen sich aufzubringen. Aber China ist die zweitgrösste Volkswirtschaft, sie macht 17% des Welt-BIP und bereits 31% der gesamten Weltproduktion aus. Der Rest der Welt ist nicht mehr willens, diese gigantische Überproduktion aus China zu absorbieren.
Und deshalb reagiert der Rest der Welt mit Importzöllen?
Genau. Selbst wenn die Welt geopolitisch betrachtet entspannter wäre, gäbe es keine Chance, dass der Rest der Welt diese Überproduktion aus China aufnehmen würde. Unmöglich. Die USA und Europa haben Massnahmen ergriffen, um ihre Einfuhren aus China zu verringern. Peking hoffte, dass der eigene Produktionsüberschuss in die Staaten des sogenannten Globalen Südens exportiert werden könnte, aber auch die Entwicklungsländer wollen sich schützen. Wir haben bereits gesehen, dass Brasilien, die Türkei und Indonesien Einfuhrzölle gegen Produkte aus China eingeführt haben. Das dürfte sich noch ausweiten.
Die EU-Kommission hat Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge verhängt, China droht mit Vergeltungsmassnahmen. Was nun?
Die Handelsbeziehungen werden sich weiter verschlechtern. Das Problem Chinas ist aber, dass es für grosse Länder mit anhaltenden, strukturellen Handelsüberschüssen sehr schwierig ist, Vergeltungsmassnahmen zu ergreifen, da sie am stärksten von einem Rückgang des Welthandels betroffen wären. Handelsüberschüsse ermöglichen es ihnen, die sehr schwache Inlandsnachfrage zu überwinden. Das ist übrigens historisch betrachtet nichts Neues. Während der Grossen Depression der 1930er-Jahre waren die USA das Land mit dem bei weitem grössten Handelsüberschuss, und nachdem sie die Smoot-Hawley-Zölle eingeführt hatten, wurden sie durch den Zusammenbruch des Welthandels schwer getroffen. Ein Handelskrieg ist für Überschussländer viel schmerzhafter als für Defizitländer. Für die gegenwärtige Situation in China müssen wir feststellen, dass alle drei möglichen Quellen für ein Wachstum der Investitionen – Immobilien, Infrastruktur und Produktion – an ihre Grenzen stossen. Trotzdem setzt die Regierung weiterhin auf eine Ausweitung der Investitionen, um das BIP anzukurbeln.
Was ist mit dem Konsum?
Um den Konsum zu beleben, müssen all die Subventionen, die das verarbeitende Gewerbe so wettbewerbsfähig gemacht haben, abgebaut werden. Das ist mittel- und langfristig notwendig, aber kurzfristig ist es schmerzhaft. Die Blaupause liefert Japan: 1986 schlug der Bericht der Maekawa-Kommission vor, die Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Der Bericht hat all die richtigen Schritte aufgeführt: Steigerung des Konsums, Verringerung der Investitionen, Verringerung der Ersparnisse. Alles sinnvolle Massnahmen. Doch selbst heute, 38 Jahre später, können wir noch nicht mit Gewissheit sagen, ob Japan das Rebalancing geschafft hat. Aus Gründen, die wir nicht vollständig verstehen, ist es äusserst schwierig, eine Wirtschaft auf nicht-disruptive Weise auf inländischen Konsum auszurichten.
Was kann Peking tun?
Die Regierung hat nicht viele Möglichkeiten. Ich denke, dass wir im dritten oder vierten Quartal dieses Jahres eine fiskalpolitische Unterstützung des Konsums erleben werden. Anstatt Geld zu leihen, um es den Unternehmen zu geben, wird die Regierung Geld leihen und es den Konsumenten geben.
Staatliche Stimulus-Schecks für die Haushalte?
Sie werden es nicht so machen, wie die USA oder die Europäer es während der Pandemie getan haben. Es wird in Peking aber erörtert, das einzuführen, was in den USA vor einigen Jahren als ‹Cash for Clunkers›-Programm bezeichnet wurde. Dabei erhalten die Leute einen Zuschuss, wenn sie ihr altes Auto verschrotten lassen und ein neues kaufen. In China könnte ein ähnliches Programm nicht nur für Autos, sondern auch für Haushaltsgeräte eingeführt werden. Die Frage ist natürlich, wie hoch diese Subventionen sein werden und ob es einen Multiplikatoreffekt auf den Konsum geben wird. Ich würde aber nicht zu viel erwarten.
Also eher ein kurzfristiger Schub für die Konjunktur, aber nicht mehr?
Ja. Der Weg, den Konsum nachhaltig zu stützen, wäre, den Anteil des Einkommens der privaten Haushalte am BIP zu erhöhen. Aber: Die Erhöhung des Anteils eines Sektors am BIP erfordert zwangsläufig eine Verringerung des Anteils eines anderen Sektors. Das ist der schwierige Teil. Wenn die Zentralregierung bloss Schulden aufnimmt, um den Haushalten temporäre Zuschüsse zu geben, dann ist das keine echte Umverteilung der Einkommen. Wichtig wäre es, über eine strukturelle Stärkung des Konsums die chinesische Wirtschaft in die Balance und damit auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Das darf aber nicht mit noch mehr Schulden geschehen, denn China hat bereits einen historisch beispiellosen Anstieg der Gesamtverschuldung hinter sich.
Der Immobiliensektor schrumpft schon seit drei Jahren. Sie sagten vorhin, die Regierung könne nicht viel dagegen tun. Wieso?
Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen: Wie stark sind die Immobilienpreise im Land bereits gesunken? Die Antwort ist, wir wissen es nicht. Gemäss offiziellen Daten für neue Wohnungen in den siebzig grössten Städten Chinas sind die Preise um 5% gesunken. Aber diese Zahlen sind stark verzerrt, der tatsächliche Preisrückgang dürfte eher um 25% liegen. Stehen wird also kurz vor dem Tiefpunkt? Wahrscheinlich nicht. In Spanien und Irland beispielsweise sind die Immobilienpreise nach der Krise von 2008 um mehr als 50% eingebrochen, und die chinesische Immobilienblase war auf ihrem Höhepunkt noch extremer aufgebläht als die in Spanien und Irland. Das deutet für mich darauf hin, dass wir erst rund die Hälfte des Prozesses hinter uns haben.
Die Regierung hat diverse Programme zur Stabilisierung der Immobilienpreise verabschiedet. Sind diese nutzlos?
Das Dilemma ist, das die Immobilienpreise eigentlich gar nicht steigen sollten. Immobilien in China sind im Verhältnis zum BIP und zum Haushaltseinkommen immer noch viel teurer als irgendwo sonst auf der Welt. Die Blase muss sich entleeren. Aber die Regierung will, dass die Deflation sehr langsam und auf eine Weise erfolgt, die der Wirtschaft nicht schadet. Ein Vorschlag zur kurzfristigen Stabilisierung des Marktes besteht darin, dass die Lokalregierungen leerstehende Wohnungen aufkaufen und sie ärmeren Menschen zu niedrigen Preisen zur Miete anbieten. Das schafft jedoch mindestens zwei Probleme. Erstens würde es eine Neuverschuldung der Lokalregierungen in Höhe von Billionen Yuan erfordern – obwohl diese schon heute weit mehr Schulden haben, als sie bedienen können. Zweitens sind die Mietrenditen bereits sehr niedrig: 1,5%, bestenfalls 2%. Wenn die Lokalregierungen eine grosse Zahl leerstehender Wohnungen aufkaufen und zu niedrigen Mieten anbieten, würde dies die Mieten nur weiter nach unten drücken. Warum sollte man als Privatperson dann überhaupt noch eine Wohnung kaufen? Der Kauf einer Wohnung wäre nur dann sinnvoll, wenn man mit steigenden Preisen rechnet, was heute niemand mehr glaubt.
Ist Chinas Immobilienmarkt kaputt?
Es wurden viel zu viele Wohnungen gebaut, es herrscht ein riesiges Überangebot. Was soll die Regierung tun? Alle leeren Wohnungen aufkaufen und sie zerstören? Das ist eine unglaublich ineffiziente Art, Geld auszugeben, und es würde riesige Summen erfordern. Die einzig saubere Lösung ist die, die Regierung nicht will: Die Blase deflationieren, die Preise sinken lassen und den Markt einem Bereinigungsprozess aussetzen. Die Lösung für jedes Schuldenproblem ist immer dieselbe: Man schreibt die faulen Schulden ab, und jemand muss die Verluste tragen. Das gilt sowohl für den Immobiliensektor als auch für die überschuldeten Lokalregierungen. Aber darüber will niemand ernsthaft diskutieren. Solange die Regierung nicht bereit ist, Schmerzen auf sich zu nehmen und Verluste anzuerkennen, wird es keine echte Lösung geben.
Die Lokalregierungen sind überschuldet, aber die Zentralregierung ist es nicht. Kann die Zentralregierung nicht mehr Schulden aufnehmen und Geld an die Provinzen verteilen?
Ja, aber das wäre eine schlechte Idee. Sie löst nicht das eigentliche Problem der unproduktiven Investitionen. Damit würde der Berg an faulen Schulden letztlich bloss in die Bilanz der Zentralregierung verlagert. China hat heute eine saubere Bilanz der Zentralregierung, genau wie Japan im Jahr 1990. In Japan wurden jedoch alle faulen Schulden im Lauf der Jahre in die Bilanz der Zentralregierung verlagert, und das Land verlor jegliche Flexibilität. Wäre es wirklich klug, die letzte saubere Bilanz Chinas, nämlich die der Zentralregierung, auszubeuten und mit Schulden aufzublähen, nur um drei oder vier weitere Jahre lang ein Wachstum von 5% zu erreichen?
Leidet China unter der Dynamik einer Bilanzrezession, so wie Japan ab 1990?
Ich glaube nicht an das Argument der Bilanzrezession. Ich denke, der Ökonom Richard Koo, der den Begriff geprägt hat, liegt falsch. Er sagt, das Problem Japans seien die unzureichenden Fiskalausgaben der Zentralregierung in den Neunzigerjahren gewesen. Das Problem Japans war für mich aber vielmehr das riesige Ausmass an unproduktiven Investitionen vor dem Crash von Anfang 1990. Diese führten zu einem Berg an faulen Schulden, der danach über mehr als zwei Jahrzehnte abgeschrieben werden musste. Das ist heute das Problem in China: In den letzten gut fünfzehn Jahren wurde in China zu viel für unnütze Immobilien und unproduktive Infrastruktur ausgegeben. Wenn Sie etwas Wertloses bauen, das Sie 100 kostet, und Sie dann glauben, Sie seien danach um 100 reicher, dann machen Sie sich etwas vor. Unproduktive und unnütze Investitionen sind wertlos. Durch den Bau der Infrastruktur und der Wohnhäuser wurde zwar das BIP aufgebläht und eine Illusion von Wachstum erzeugt, aber der echte volkswirtschaftliche Wert ist gering. Versucht man nun, die Investitionsausgaben aufrechtzuerhalten, um einen Rückgang der wirtschaftlichen Dynamik zu verhindern, dann baut man nur noch mehr faule Schulden auf. Das führt zu nichts.
Was bleibt also übrig?
Das, was ich seit Jahren sage: Ein Rebalancing und eine Stärkung des Binnenkonsums, indem der Anteil der Haushaltseinkommen am BIP erhöht wird.
Warum geschieht es denn nicht, wenn es so offensichtlich ist?
Das Problem ist, dass ein Rebalancing zwei Seiten hat. Die gute Seite: Der Anteil der Haushaltseinkommen am BIP steigt. Die Menschen erhalten mehr vom wirtschaftlichen Kuchen. Das ist der Teil, über den alle gerne reden. Die schlechte Seite: Der BIP-Anteil eines anderen Wirtschaftssektors muss sinken. Ein Transfer ist ein Transfer. Fast alle, mit denen ich in China spreche, sind sich inzwischen einig, dass es richtig wäre, den Anteil der Haushaltseinkommen am BIP zu erhöhen. Aber bisher habe ich noch keine Diskussion über die Frage gehört, wer die andere Seite des Transfers übernehmen wird.
Ihre Antwort?
Es gibt drei mögliche Seiten, die ihren Anteil am BIP verringern könnten, damit die Haushaltseinkommen steigen. Erstens die Privatwirtschaft, was für das längerfristige Wachstum schlecht wäre. Zweitens, die Zentralregierung in Peking. Aber das halte ich für unwahrscheinlich, denn der Parteiapparat ist fest entschlossen, seine Macht zu zentralisieren. Drittens, die Lokalregierungen. Diese dritte Option die beste Lösung, aber da sind grosse Partikulärinteressen im Spiel: Ein Grossteil der wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Eliten Chinas hat sich über Jahrzehnte hinweg um die Kontrolle des Vermögens durch die Lokalregierungen herum gebildet. Sie widersetzen sich.
Können Sie ein Beispiel geben?
Lassen Sie es mich anhand des verrücktesten Falles illustrieren; der Provinz Guizhou. Eine wunderschöne Provinz im Südwesten Chinas, gebirgig, aber sehr arm, mit einem Pro-Kopf-Einkommen, das ein wenig höher ist als in Kambodscha. Sie hat die schönsten Brücken der Welt. Von den hundert höchsten Brücken der Welt stehen fünfzig in Guizhou. Glauben Sie, dass Sie in der Schweiz hohe Brücken haben? Sie sind nichts im Vergleich zu Guizhou. Aber das Pro-Kopf-Einkommen in Guizhou beträgt etwa ein Zehntel des Ihren. Die Produktivität der Arbeiter ist nicht hoch genug, um diese wahnwitzigen Infrastrukturbauten zu rechtfertigen, und so wurden diese schönen Brücken zu einer Belastung für die lokale Regierung – deshalb ist Guizhou bankrott. Aber jetzt kommt das Spannende: Das zweitwertvollste Unternehmen in China, nach der Grossbank ICBC, ist der Spirituosenriese Moutai. Und wer ist der Hauptaktionär und damit Eigentümer von Moutai? Der Lokalregierung von Guizhou. Warum muss sie ein Spirituosenunternehmen besitzen? Warum verkaufen sie die Beteiligung nicht und verwenden den Erlös, um die Schulden zu senken? Jeder weiss, warum: Weil die Dividenden von Moutai einen Grossteil des Funktionierens der Beziehungen zwischen lokalen Banken, lokalen Eliten und der lokalen Regierung finanzieren. Solche Beispiele gibt es viele, und letztlich läge dort die Lösung: Die Lokalregierungen sollten ihre Vermögenswerte verkaufen und an die privaten Haushalte übertragen, um damit die Kosten des notwendigen Transfers zu tragen.
Michael Pettis