Der Schweizer Künstler Yves Netzhammer hat mit «Reise der Schatten» einen Langfilm realisiert, in dem er sein unverkennbares Bildvokabular zelebriert.
Die Strafe für den Sündenfall war nicht die Vertreibung aus dem Paradies. Vielmehr besteht sie in der den Menschen auferlegten Fähigkeit zur Sprache. Als sich Adam und Eva in ihrer Blösse erkannten, waren sie fortan dazu verdammt, die nackte Tatsache beim Namen zu nennen. Yves Netzhammers Menschen aber sind sprachlos – und deshalb wohl auch geschlechtslos. Sie haben zwar Zungen, um sie sich gegenseitig in den Mund zu schieben, wenn sie sich lieben. Aber Geschlechtsteile kennen sie nicht.
Gleichwohl ist auch die völlig sprachlose Welt, die der Schweizer Animationskünstler für seine Figuren geschaffen hat, weit entfernt vom Paradies. In seinem zwar stummen, aber durchaus nicht klanglosen Langfilm kommt sogar einmal ein Schrei des Entsetzens vor. Die komplexe, ausgefeilte Tonspur aber scheint vor allem dazu da zu sein, ein Gefühl unheimlicher Fremdheit zu generieren. Es ist eine merkwürdig verschattete, entrückte Welt wie in einem bösen Traum, in die uns Netzhammer eintauchen lässt. In diesem Schattenreich entspinnt sich eine Liebesbegegnung, die allmählich in eine Katastrophe mündet.
Unerleuchtete Natur
Im wirklichen Paradies würden Affen wohl keine Blumen ausreissen. Es gäbe allerdings auch keine Erkenntnis und daher kein Erschrecken. Gleich zu Anfang von Yves Netzhammers knapp eineinhalbstündigem Animationsfilm aber schiebt sich der Affe eine gepflückte Blume in den Mund und zerkaut sie zwischen den Zähnen. Er erblickt den Vollmond im Teich und greift nach ihm. Worauf das silberne Gestirn sich im Wellenschlag als blosses Trugbild verliert und der Affe sich vor Schreck davonmacht.
Das von Netzhammer zitierte Bild vom Affen und vom Spiegelbild des Mondes stammt aus der buddhistischen Kunst Ostasiens und ist ein beliebtes Simile für die hoffnungslose Verstrickung der unerleuchteten Natur in der Welt irdischer Phänomene. Diese Verwirrung der Wechselwirkungen ist auch symptomatisch für Netzhammers Bildwelten, in welchen der Zeichenstift des Künstlers aus jedem Bild neue Bilder entstehen lässt.
Netzhammer zeigt diese Verkettungen gleichsam unter dem Brennglas. Alles entsteht traumwandlerisch aus dem Vorangegangenen. Alles ist in konstantem Wandel begriffen. Sein Film ist ein einziges Spiel der Metamorphosen. Und die sich dabei ergebenden Verflechtungen sind keineswegs immer glücklich.
Das Glück ist zwar anzutreffen auf Yves Netzhammers «Reise der Schatten», wie der Titel seines cineastischen Erstlings lautet. Alles darin aber hat auch seine Schattenseiten. So will es das Gesetz dieses wie aus dem Musterbuch eines dämonischen Demiurgen erschaffenen Kosmos der Bilder, dass Licht auch Schatten wirft, dass auf Glück Unglück folgt und dass Freude sich nur einstellt, um schon bald von Schmerz abgelöst zu werden. So nehmen hier die karmischen Legierungen von Ursache und Wirkung gnadenlos ihren Lauf.
Drama der Bilder
Die Odyssee der beiden an Gliederpuppen erinnernden Figuren, die sich schon bald trennen, um sich wieder zu begegnen, hebt zu Anfang in einem rätselhaften Wasserballett an. Aus dem Reigen der Synchronschwimmer wird ein zärtlicher Tanz der Zungen. Die sanften Liebkosungen von Händen gehen bald auch in Grausamkeiten über. Bohrenden Fingern öffnen sich Körperstellen, aus deren Wunden das Blut tropft.
Die Hand ist ein geradezu archetypisches Motiv in der Kunst von Yves Netzhammer. Sie zählt zu einem Abc, das sich auch in diesem abendfüllenden Film leicht buchstabieren lässt: Affe, Blume, Drohne, Fisch, Gliederpuppe, Haus, Kerze, Maschine, Roboter, Spiegel, Wasser. Mit seinem unverwechselbaren ikonografischen Vokabular hat sich der 1970 in Affoltern am Albis geborene Schweizer in den letzten drei Jahrzehnten international einen Namen gemacht. Für seine computergenerierte Videokunst, seine Diaprojektionen und Rauminstallationen ist er bis nach Japan bekannt.
Seiner charakteristischen Choreografie bleibt Netzhammer indes auch im Medium des Films treu: in seinem Fall dem Drama eines unaufhaltsam sich entfaltenden Bilderflusses, untermalt von technoid-digitalem Soundtrack. Einmal mehr verfestigt sich in diesem epischen Animationswerk der bei Netzhammer vorherrschende Eindruck einer unbeständigen Welt, die ihren Lauf nach Gesetzen nimmt, die uns verborgen bleiben.