Die Schweiz geriet schon im Mittelalter zwischen die Fronten der Grossmächte. Später hat ihr das Verständnis als neutraler Kleinstaat geholfen zu überleben. An dieser Erfahrung orientiert sie sich heute noch. Das durchaus erfolgreich.
Wäre die Welt eine Sitcom, in der die Schweiz eine Hauptrolle spielte, es wäre «Malcolm in the Middle». Der hochbegabte Malcolm hat das Pech, in eine dysfunktionale Familie hineingeboren worden zu sein. Die Eltern und Geschwister suchen verzweifelt einen Platz in der Gesellschaft, stolpern aber von Peinlichkeit zu Peinlichkeit. Malcolm steht daneben, kommentiert und nutzt das Chaos zu seinen Gunsten.
Mit Donald Trump hat in den USA ein Präsident übernommen, der Zolltarife verteilt wie Hiebe. China revanchiert sich mit Gegenzöllen und schickt bereits gelieferte Boeing-Jets in die USA zurück. Die Ukraine wird immer noch von Russland angegriffen, und zwischen den beiden Atommächten Pakistan und Indien droht die Lage wegen eines Terroranschlags in Kaschmir zu eskalieren.
Die Reisen sind gut verlaufen
Und die Schweiz? Sie steht abseits und versucht, das Chaos zu ihren Gunsten zu nutzen. Finanzministerin Karin Keller-Sutter und Wirtschaftsminister Guy Parmelin sind nach Washington geflogen, um die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die Schweiz ein guter Investor und ein guter Handelspartner ist. Die Reise ist erfreulich verlaufen. «Die Schweiz wird geschätzt, unsere Argumente und unsere Position wurden gehört, und man ist bestrebt, mit uns eine Lösung zu finden», sagt Karin Keller-Sutter.
Gleichzeitig ist Aussenminister Ignazio Cassis nach China geflogen, um die Beziehungen mit Peking zu vertiefen. Man will das Freihandelsabkommen erweitern und die Handelsbeziehungen allgemein vertiefen. Die Reise ist erfreulich verlaufen. «Wir glauben beide, dass wir durch Dialog Lösungen für die Schweiz und für China finden», sagt Ignazio Cassis.
China und die USA schauen mit unterschiedlichen Augen auf die Schweiz. Für Amerika ist die Schweiz mal «sister republic», mal Trittbrettfahrer. Unter Trump erwarten sie Investitionen und eine weniger geschmeidige Finanzpolitik, unter Biden forderten sie mehr Engagement für die Ukraine und mehr Einsatz im Umgang mit russischen Geldern. Sie erhoffen sich eine kooperative Neutralität im Sinne Ignazio Cassis’.
China betrachtet die Schweiz seit siebzig Jahren als kleine, nützliche Freundin. Die Schweiz hatte die Volksrepublik 1950 als einer der ersten westlichen Staaten anerkannt. Das verbindet. Gleichzeitig erwartet Peking, dass Bern bei Industriespionage und anderen unfreundlichen Umtrieben wegschaut. Vor allem aber erwartet das Riesenreich, dass sich die Schweiz strikt neutral verhält. Nicht im Sinne Cassis’, sondern eher im Sinne der SVP: passiv.
Die Geschmeidigkeit, mit der sich die Schweiz zwischen den Grossmächten bewegt, wird seit Jahrzehnten kritisiert. Müsste sich die reiche Schweiz nicht mehr engagieren? Müsste sie sich nicht solidarischer zeigen? Müsste sie sich nicht positionieren?
Aus moralischer Sicht fällt die Antwort leichter als aus politischer. Denn die Schweiz hat sich schon immer arrangiert, hat sich immer schon arrangieren müssen. Der Streit zwischen Friedrich II., dem dunkelhäutigen, helläugigen, wissbegierigen Staufer-Kaiser aus Sizilien, und dem Papst brachte den helvetischen Talschaften im 13. Jahrhundert ihre ersten Freiheiten. Ihr Habsburger-Graf hatte sich mit dem Papst verbündet, Friedrich II. befreite 1231 deshalb erst Uri und 1240 Schwyz, die er in die Reichsunmittelbarkeit entliess. Die Schwyzer dankten es ihm, indem sie seinen Truppen am Gotthard zu Hilfe eilten.
Fast 600 Jahre später prägte Jacob Burckhardt den Begriff «Kleinstaat»: «Der Kleinstaat ist vorhanden, damit ein Fleck auf der Welt sei, wo die grösstmögliche Quote der Staatsangehörigen Bürger in vollem Sinne sind.» Das Europa des 19. Jahrhunderts war nach den napoleonischen Kriegen geprägt von der Rivalität der grossen kontinentalen Mächte. Die Schweiz erfand sich in einer Welt, in der die Grossmächte aufhörten Grossstaaten zu sein, als Kleinstaat.
Auf die Schweiz warten viele Herausforderungen. Sie muss einen Weg mit den USA finden und gleichzeitig die Annäherungspolitik mit China weiterführen. Sie will der Welt weiterhin ihre Guten Dienste anbieten, muss aber mit der eigenen Bevölkerung erst die Frage klären, wie die Schweizer Neutralität denn gelebt werden soll. Kooperativ oder passiv? Sie will näher zu Europa, muss aber erst herausfinden, wie nah.
Das Ende der Geschichte? Leider, nein
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat auch die Schweiz aus dem Schlaf gerissen. Der amerikanische Politikwissenschafter Francis Fukuyama hatte sich getäuscht. Der Fall der Berliner Mauer bedeutete nicht das Ende der Geschichte. Heute sind der Liberalismus, die Demokratie und die freie Marktwirtschaft weit davon entfernt, sich als globale Leitkultur durchzusetzen. Die Welt kann schon froh sein, wenn sich die Kontinentalplatten der Geopolitik vorübergehend weniger schnell bewegen.
Früher oder später wird die Schweiz Farbe bekennen müssen. Ost oder West? China oder USA? Mit oder ohne EU? Vorläufig ist sie allerdings nicht schlecht beraten, wenn sie das tut, was sie schon immer gemacht hat. Sie spielt «Malcolm in the Middle», den leicht verschlagenen Klassenbesten unter Verhaltensauffälligen.
Die Welt spinnt – die Schweiz arrangiert sich. Solange man sie lässt.