Kunstschaffenden wird nachgesagt, sie hätten einen kritischen Blick auf das Zeitgeschehen. Derzeit erweisen sie ihre Irrelevanz, es macht den Eindruck, als seien in den Tiefschlaf gefallen.
Bereits im zarten Alter von 51 Jahren hat der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss sein Archiv dem Schweizerischen Literaturarchiv verkauft. Auch die deutsche Schriftstellerin Ursula Krechel zeigte sich geschäftstüchtig und verkaufte unlängst ihr Archiv zu Lebzeiten dem deutschen Staat. Das ist nicht verwerflich, Manuskripte sind eine Handelsware mit Marktwert.
Aber es ist ein Symptom für ein verbreitetes Phänomen: Während in der Welt gerade ein teuflisches Durcheinander von Krieg und Despotismus herrscht und düstere Zukunftsaussichten drohen, kaprizieren sich manche Autoren auf die Beschäftigung mit sich selbst. Die einen finden im administrativen Innendienst ihr Refugium vor den Zumutungen der Gegenwart und monetarisieren ihren Papierkram; die anderen suchen mit literarischer Selbstbeschäftigung, auch bekannt unter dem Namen Autofiktion, ihren inneren Frieden. So hat der französische Schriftsteller Édouard Louis gerade mit der Heiligsprechung seiner Mutter die nächste Episode in einem nicht enden wollenden Epos über seine dysfunktionale Familie veröffentlicht.
Doch nicht nur Autoren gehen in Deckung. Auch das Zürcher Schauspielhaus erweckt mitunter den Eindruck, Schauspieler seien hauptsächlich mit ihrer Selbstfindung beschäftigt. Frau oder Mann oder beides oder gar ein Drittes? Gleich zwei abendfüllende Programme zelebrieren hingebungsvoll das Thema.
Genderfragen im Variététheater
Nun wird niemand behaupten, dass Menschen mit ungewissen oder fluiden Geschlechtsidentitäten keine seelischen Nöte erleiden oder in der Öffentlichkeit nicht verbal oder tätlich angegriffen werden. Es ist gewiss ein ernstzunehmendes Thema. Zugleich gilt als unbestritten, dass es in keiner bekannten Epoche der Geschichte so leicht gewesen ist wie gerade jetzt, alle denkbaren Spielformen der sexuellen Identität auszuprobieren.
Es sind darum keineswegs die dringendsten Fragen, die damit auf der Bühne verhandelt werden. Vielmehr hat das Theater gerade den Vergnügungsfaktor von modischen Genderfragen entdeckt. Das Stück «Die kleine Meerjungfrau», das in dieser Saison am Schauspielhaus gezeigt wird, ist grosses Variététheater. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn nur am anderen Ende des Spass-Spektrums Ebenbürtiges auf dem Programm stünde.
So bleibt ausgerechnet Hollywood die letzte Hoffnung. Doch auch hier findet die Gegenwart gerade nicht statt. Die Oscars machten einen grossen Bogen um alles, was weh tun könnte. Man war sich selbst genug und tat, als wäre nichts geschehen, weder Trump noch Brand. Oder war da nicht doch etwas? Ja, der norwegisch-palästinensische Film «No Other Land» wurde mit dem Oscar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Es war so etwas wie das Feigenblatt für das derzeit politisch weitgehend irrelevante Filmschaffen.
Allerdings handelt es sich bei diesem Feigenblatt um eine unverhohlen aktivistische Darstellung – Dokumentation kann man es beim besten Willen nicht nennen – des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der Gaza-Krieg findet darin nur noch ganz am Rande statt, der 7. Oktober ist eine Fussnote, von einem Pogrom und von Entführungen durch die Hamas weiss der Film nichts. Hier hat der ideologische Innendienst ganze Arbeit geleistet, und die Filmbranche unterstützt diese unappetitliche Spielform der Autofiktion willfährig und eifrig mit Preisen.
Masslose Selbstüberschätzung
Hat die Kultur ihren Kompass verloren, mit dem sie durch die Wirren der Gegenwart navigiert und zugleich Unfug von Kunst zu unterscheiden versteht? Oder ist sie in den Tiefschlaf gefallen? Nicht ganz. Es gibt da und dort Zeichen, die darauf hoffen lassen, dass wir nicht vollends auf den Beistand der Kultur verzichten müssen.
Einen etwas paradoxen Weg hat der Geiger Christian Tetzlaff gewählt: Seine Form des Beistands besteht im Abstand. Aus Protest gegen die Politik von Donald Trump und Konsorten boykottiert er ab sofort Konzerte in den USA. Er könne es nicht mit seinen politischen Überzeugungen vereinbaren, einen erheblichen Teil seiner Gage als Steuern an die amerikanische Regierung abzuführen. Es sei nicht seine Absicht, die Administration Trump mit seinem Geld mitzufinanzieren.
Ähnliches gibt die deutsche Pianistin Schaghajegh Nosrati auf Instagram bekannt: «Als Künstlerin fühle ich mich verpflichtet, klar Stellung zu beziehen und gegen Ungerechtigkeit zu protestieren.» Ihre USA-Tournee hat die Musikerin kurzerhand abgesagt. Das sind beides ehrenwerte Gründe für respektable Entscheide. Sie bleiben bloss vollkommen wirkungslos. Niemandem ist damit geholfen, der Boykott tut keinem weh, selbst für die Künstler ist er fast umsonst zu haben. Der Ausfall der Gagen wird mit einem Reputationsgewinn kompensiert und mit der Reinheit des Gewissens abgefedert.
Einen anderen, etwas phantasievolleren Weg hat der französische Cellist Jean-Guihen Queyras gewählt. Er hat angekündigt, den Ertrag von fünf in den USA geplanten Konzerten an die Ukraine zu spenden. Immerhin kommt das jemandem zugute. Mit den ureigenen Mitteln der Kultur hat all das jedoch gar nichts zu tun. Auch ein Klempner oder Informatiker kann spenden oder boykottieren. Künstler haben in ihren kleinen Kreisen einfach eine etwas grössere Sichtbarkeit, sonst haben sie den Klempnern in dieser Hinsicht nichts weiter voraus. Die Boykotte zeugen von einer masslosen Selbstüberschätzung.
Seltene Glücksfälle
Die Kultur kennt andere Mittel, eigene. Vielleicht nicht so sehr Musiker, aber Autoren, Maler, Bühnenkünstler. Anselm Kiefer zeigt zurzeit in zwei Amsterdamer Museen eine grosse Auswahl seiner Werke, die sich ganz explizit auch mit dem Krieg beschäftigen. Seine als Halbreliefs aus den Bildern heraustretenden, erdig verklumpten Figuren sind gebeugte, geschundene, abgerissene Gestalten. Der Krieg hat sie mürbe gemacht. Sie ziehen wie eine Prozession des Grauens an den Besuchern vorüber. Das erzählt schlicht, nüchtern und ohne Pathos vom Leiden.
Ähnliches gibt es mitunter auch im Theater, vor bald zwei Jahren zum Beispiel am Zürcher Schauspielhaus. Damals inszenierte der ukrainische Regisseur Stas Schirkow «Antigone in Butscha», das Stück seines Landsmannes Pawlo Arie. Wie der Autor Sophokles’ Tragödie nach Butscha verlegt hatte, so brachte der Regisseur Butscha nach Zürich. Die russischen Truppen begehen ihre Verbrechen zwar über tausend Kilometer entfernt im Osten, zugleich liegt ihr Schatten auch auf den Bewohnern dieser Stadt. Die Kernaussage der Inszenierung war einfach, aber keineswegs banal. Niemand kann so tun, als ginge ihn der Krieg nichts an.
Das war Aufklärung im emphatischen und besten Sinn des Wortes: eine Herausforderung zum Selberdenken. So etwas ist ein Glücksfall im Kulturgeschehen. Es geschieht auch nicht alle paar Tage, weil es keine Selbstverständlichkeit ist, dass die Gegenwart in ihrer Komplexität zum Thema gemacht wird und dabei nicht verlorengeht, was das kritische Potenzial der Kunst gerade ausmacht: Imagination und analytische Reflexion. In dieser Dialektik von bildlicher Anschauung und gedanklicher Durchdringung vollzieht sich das künstlerische Geschehen.
Aus dem Tiefschlaf rütteln
Niemand erwartet, heute den schlüssigen Roman zum Krieg in Gaza oder der Ukraine zu lesen, keiner will die Vorgänge im Weissen Haus als Theaterstück oder komische Oper sehen – auch wenn gerade Letzteres eine besonders exquisite Burleske ergeben könnte. Aber man hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich das Kulturschaffen hierzulande und anderswo so sang- und klanglos aus der Gegenwart in die Bedeutungslosigkeit verabschieden würde.
Wieso nimmt kaum einer die Herausforderung an, dieses Wirrsal in der Welt darzustellen, statt nur immerfort pathetisch das Durcheinander im eigenen Denken und Leben zum existenziellen und ästhetischen Ernstfall zu stilisieren? Die Gesellschaft braucht die Kunst, nicht weil sie sagt, was oder wie man zu denken habe, sondern weil sie eine Sehschule ist, weil sie Denkgewohnheiten durchbricht. Nichts macht sie so unentbehrlich wie die Perspektive, die fundamental ist für die Kunst: Sie ermöglicht es einem, mit den Augen eines anderen in die Welt zu schauen.
Stattdessen erleben wir Selbstbespiegelungen ohne Ende. Damit gibt die Kunst preis, was sie zu einem Instrument der Erkenntnis macht. Wer durch die Augen eines anderen in die Welt schaut, wird in seinen eigenen Wahrnehmungen dieser Welt herausgefordert. Er wird seine eigene Sichtweise überprüfen wollen oder müssen, wird vielleicht daran festhalten oder – auch das ist möglich – sie revidieren. Das kann Kunst, wenn sie sich ernst nimmt. Aber dazu müsste sie erst einmal aus ihrem Tiefschlaf wachgerüttelt werden.