Im Berlin der Dreissigerjahre war die jüdische Dichterin Mascha Kaléko ein Star am Literaturhimmel. Dann zog der Nationalsozialismus auf. Zu ihrem 50. Todestag hat der Autor Daniel Kehlmann einen abwechslungsreichen Erinnerungsband zusammengestellt.
Anfang der 1930er Jahre strahlte Mascha Kalékos Stern hell am deutschsprachigen Literaturhimmel. Mit ihren zwanglos gereimten, zwischen Witz und Wehmut changierenden Gedichten über das urbane Alltags-, Arbeits- und Beziehungsleben sorgte die junge Frau für Furore. Ihre Texte erschienen massenhaft in Zeitungen und bald auch in den zwei Bestsellern «Das lyrische Stenogrammheft» (1933) und «Kleines Lesebuch für Grosse» (1934).
«Ich tat die Augen auf und sah das Helle», so ist denn auch Daniel Kehlmanns Auswahl aus Kalékos lyrischem und Prosawerk überschrieben, das nun zum 50. Todesjahr der Dichterin erschienen ist. Der schmale, doch repräsentative Auswahlband folgt Kalékos wechselhafter biografisch-literarischer Odyssee in rund 85 Gedichten und 6 Prosastücken aus allen Schaffensperioden.
Wo Licht ist, ist auch Schatten
Auf «das Helle» folgte ab Mitte der Dreissigerjahre die «grosse Verdunkelung», wie es Kaléko selbst rückblickend formulierte. Oder der «grosse Biografiebruch», wie Kehlmann in seinem konzisen Vorwort schreibt.
Kaléko wurde 1907 als Golda Malka Aufen in Galizien geboren und war ab 1918 in Berlin heimisch. Als Jüdin erhielt die Dichterin 1935 Schreibverbot und musste 1938 mit ihrem zweiten Mann und dem gemeinsamen kleinen Sohn in die USA emigrieren. In New York lebte sie unter prekären Umständen, ihre literarische Produktion, die sich nun vorwiegend düsteren Themen und der Wut auf die Nationalsozialisten zuwandte, stagnierte.
1960 zog sie mit ihrem Mann nach Israel, wo sie sich jedoch unwohl fühlte, nur mehr wenig schrieb und nach dem Tod ihres erst 31-jährigen Sohns 1969 und ihres Manns wenige Jahre darauf zunehmend in Depressionen versank. 1975 starb Kaléko auf der Durchreise in Zürich an Magenkrebs.
Kunstvolle Kontraste
Die von Kehlmann kuratierten Texte verteilen sich auf 18 grob chronologisch geordnete, thematische Kapitel wie «Über Abschiede», «Über das Muttersein», aber etwa auch «Über Leute, die man nicht selber ist». Die Offenheit dieses Titels erlaubt es Kehlmann, ganz unterschiedliche Kaléko-Charaktere zusammenzuführen und wirkungsvoll miteinander zu kontrastieren.
Etwa die verzogenen «Kinder reicher Leute» mit der genügsamen Kinderfrau «Agota». Oder den entlassenen, unglücklichen jungen Angestellten aus «Zeitgemässer Liebesbrief» mit dem saturierten Schreibtischhengst in der Satire «Der Herr von Schalter Neun».
Das Prinzip der Kontrastierung lässt sich auch in der Anordnung der Kapitel beobachten: So setzt Kehlmann bei den vier Kapiteln zu Kalékos Exil in den USA auf ein Wechselspiel emotionaler An- und Entspannung. Den Beginn der Reihe markiert «Über Refugees», eine Folge zehn tieftrauriger Gedichte über die Fremdheit im neuen Land und die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die nicht mehr existiert: «Mir ist zuweilen so als ob / Das Herz in mir zerbrach. / Ich habe manchmal Heimweh. / Ich weiss nur nicht, wonach . . .»
Auf dieses trübe Kapitel folgt Kalékos amüsant-selbstironischer Prosabericht über ihren kurzzeitigen «Beruf» als «Minute-Man» von 1942: Sie war eine unbezahlte Vertreterin für Kriegsanleihen in New Yorker Haushalten.
Das anschliessende Kapitel «Über das deutsche Grauen» wühlt mit den beiden hasserfüllten Gedichten «Höre Teutschland» und «Bittgesuch an eine Bombe» nochmals nachhaltig auf, bevor mit «Spazieren in Greenwich Village», einer liebevoll-ironischen Reportage über New Yorks Künstlerviertel oder «Montmartre» in «neuer, verwässerter Auflage», abermals Entspannung einkehrt.
Der Weg einer Dichterin zu sich selbst
Im Vorwort schreibt Kehlmann, Kaléko gelange erst mit den bitteren, traurigen Exilgedichten «als Künstlerin ganz zu sich», während die Melancholie der frühen Lyrik mitunter geziert, «wie ein gekonnt gepflegtes Markenzeichen» wirke – zumal wenn gleichzeitig ein launiger Ton angeschlagen werde.
In der Sammlung hingegen zeigt er, wie die Dichterin auch nach 1938 immer wieder Witz und Ironie in ihr Werk mischt und es so vielgestaltig und lebendig hält.
Ein Thema, das Kaléko ihr ganzes Leben lang beschäftigt, sind intime, zwischenmenschliche Beziehungen. Gleich zwei Kapitel diesseits und jenseits des «Biografiebruchs» sind mit «Über die Liebe» betitelt; sie versammeln insgesamt ein Dutzend Gedichte an Kalékos zweiten Ehemann, den Musikologen Chemjo Vinaver. Kehlmanns Aufsplittung der Texte in zwei Teile zeigt eindrücklich, wie die von Beginn an tiefe Liebe ab den Exiljahren eine geradezu existenzielle, lebenserhaltende Dimension annimmt: Verzweifelt wird Gott angerufen, als Vinaver 1954 dem Tod nahe scheint: «Willst du ihn von mir nehmen / So nimm mich mit. [. . .] Herr, lass mich mit ihm gehen / Ins Allwohin.»
Auch im Bereich der Liebe verzichtet Kehlmanns Sammlung indes nicht ganz auf leichtere Spielformen. Wenngleich ihm «das Gezierte» des Frühwerks anhaften mag, findet das kecke Gedicht «Grossstadtliebe» seinen verdienten Platz im Band: Man lernt sich «irgendwo ganz flüchtig kennen», verbringt die Abende und Wochenenden zusammen, und wenn man genug hat «von Weekendfahrt und Küssen, / Lässt man’s einander durch die Reichspost wissen / Per Stenographenschrift ein Wörtchen: ‹aus›!».
Mascha Kaléko: Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. Ausgewählt und mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann. DTV, München 2024. 256 S., Fr. 29.90.