Das Abgründige, Dunkle und Unkontrollierbare ist Teil der Sexualität. Jeder Versuch, die Erotik davon zu säubern, muss scheitern. Deshalb sind die Debatten um sexuell korrektes Verhalten verlogen.
Sexpositivität ist vorbei. Zwar gibt man sich besonders in linken, progressiven und queeren Kreisen weiterhin aufgeschlossen und unverklemmt gegenüber allen möglichen sexuellen Vorlieben und Beziehungsformen, «Sexarbeit» und «kink-positiven Partys». Gleichzeitig möchte man aber keinesfalls im Ruf stehen, sich jener Freizügigkeit hinzugeben, die den Ruch des Patriarchalen und Rücksichtslosen an sich trägt.
Das Awareness-Team steht immer bereit, die Pornos sollen feministisch sein, das Wort «Konsens» streut man in Gesprächen über Sex hin und wieder als Erkennungsmarke der guten Gesinnung ein, damit auch jeder weiss, dass man nichts gemein hat mit jener unsauberen Rüpel-Sexualität, die die Welt da draussen – so die bange Annahme – immer noch fest im Griff hat.
Die seit der #MeToo-Bewegung ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückten Debatten um Konsens und sexuelle Benimmregeln haben die enorme Spannung zwischen dem progressiven Willen zur Offenheit und der gleichzeitigen Sehnsucht nach öffentlicher Politisierung, klaren Regeln und einer klinisch anmutenden, letztlich lustfeindlichen sexuellen Verhandlungsethik erkennbar werden lassen. Dabei wurde die Rede von sexueller Übergriffigkeit dermassen inflationiert, dass man bei entsprechenden Debatten heute oft gar nicht mehr weiss, ob es um wirklich gewaltvolle Übergriffe geht, die dann bedingungslos Sache der Polizei und der Gerichte wären, oder um Respektlosigkeiten, Indiskretionen und Missverständnisse, die man je nach Kontext ganz verschieden bewerten müsste.
Das Anzügliche bleibt anziehend
Wenn im Jahr 2025 also noch von «Sexpositivität» die Rede ist, dann kann man sich darauf verlassen, es mit einem gründlich desinfizierten Korrektheits-Terminus zu tun zu haben. Es ist ein Deckbegriff, der nur deswegen so eine flotte Karriere hinlegen kann, weil er gewisse als progressiv geltende Ideale wie Freizügigkeit, Libertinage oder Offenheit überbetont, die in der Realität jedoch schon längst jeglicher Substanz im Zeichen politischer Korrektheitsbemühungen beraubt worden sind.
Denn was schliesst das Sexpositivitäts-Paradigma garantiert nicht ein? Schaut man sich die Skandale der letzten Monate an, dann sind das: freizügige, an «klassische Schönheitsnormen» angelehnte Werbung, Pop-Sängerinnen, die das Motto «Sex sells» selbstbewusst zur Waffe machen, sowie Kunst, die das grenzüberschreitende und überwältigende Moment sexuellen Verlangens betont. Da wäre der Aufruhr über die Jeans-Werbung des Modeunternehmens American Eagle mit der Schauspielerin Sydney Sweeney. Auch die Sängerin Sabrina Carpenter erntete kürzlich einen Shitstorm, als sie sich auf dem Cover zu ihrem neuen Album «Man’s Best Friend» mit Hundeleine um den Hals und vor einem gesichtslosen Mann kniend ablichten liess.
Doch in den negativen, empörten Reaktionen auf all diese Phänomene drückt sich vor allem die ungebrochene Faszination für sexuelle Vorgänge aus. Auch die seltsam detailversessene, pubertäre Neugier auf sexuelle Verfehlungen, Beziehungsdramen und Affären von Prominenten zeigt, dass die neuen Puritaner der vielbeklagten «Übersexualisierung» nicht indifferent gegenüberstehen und sich stattdessen lieber interessanteren Dingen widmen, sondern permanent auf der Pirsch nach allem Anzüglichen und Verdorbenen sind. Es ist die Lust der anderen, die gleichzeitig anzieht und abstösst.
Erotik lässt sich sprachlich nicht einhegen
Der französische Philosoph Georges Bataille stellte einst fest, dass sich die Erotik nicht aus ihrer Verstricktheit mit dem Geheimnis, dem Tabu und dem Verbot denken lasse. Erotik sei die «Störung des Gleichgewichts, in der sich das Wesen selbst infrage stellt, und zwar bewusst». Sigmund Freuds Ideen widersprechen dem kommunikationspädagogischen Alltagsmythos von konfliktfreier, normierter Sexualität in ähnlicher Weise: Erstens sei die Grenze zwischen Normalität und Perversion fliessend, und zweitens sei Sexualität nichts, was sich sprachlich restlos fassen liesse. Das Unbewusste verunmöglicht jede Identität zwischen sexuellem Akt und dem Versuch, diesen theoretisch festzunageln.
Die Psychoanalytikerin Avgi Saketopoulou machte in ihrem 2023 erschienenen Buch «Sexuality Beyond Consent» den Terminus der Opazität stark, um begrifflich festzuhalten, dass man sich selbst nie komplett durchsichtig ist und dass gutgemeinte Konsens-Paradigmen deswegen so oft zum Scheitern verurteilt sind, weil sich das Sexuelle nie ganz einhegen lässt, ohne dass ein unbewusster Rest übrig bleibt.
Man muss jedoch nicht einmal Theorie wälzen, um etwas über den verschwenderisch-dionysischen, nicht komplett zu domestizierenden Charakter des Sexuellen zu lernen. Die Kunsthistorikerin Camille Paglia machte darauf schon in den neunziger Jahren aufmerksam, als ihr Mammutwerk «Die Masken der Sexualität» erschien – sie gilt seitdem als Erzfeindin des liberalen Feminismus.
Auch die französische Regisseurin Catherine Breillat lässt ihre Figuren stets mit der Undurchsichtigkeit und Perversität ihres eigenen Begehrens hadern: Die Sexualität ist hier alles andere als die harmlose, ertüchtigende Freizeitaktivität, als die sie heute sowohl von pädagogischer als auch von progressiver Seite missinterpretiert wird. Auch Breillat wurden Frauenfeindlichkeit und Objektifizierung vorgeworfen.
Könnten Filme wie Stanley Kubricks «Eyes Wide Shut», Michael Hanekes «Die Klavierlehrerin» oder Luis Buñuels «Belle de Jour» noch in vergleichbarer Form gedreht werden? Diese gingen in ihrer Auseinandersetzung mit Sexualität und Grenzüberschreitung teilweise so weit, dass sie einen Zusammenhang zwischen sexueller Erfüllung und Selbstzerstörung behaupteten. Man würde ihre Figuren heute wohl zu pathologischen Stellvertretern einer rückständigen und unaufgeklärten Epoche verzerren. Über dieses Bewusstsein, das jeder Unregelmässigkeit misstraut, sagte der Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch: «Es scheint, als seien die Menschen sexuell aktiv, doch sie vermeiden alles, was daran erinnert: Spontaneität und Regellosigkeit, Hingabe und Ekstase, Risiko und Subjektivität.»
Moralische Empörung über die Lust der anderen
Die Zähmung der Sexualität kann nicht nur nicht gelingen, sondern sie würde sie auch jeder Erotik berauben. Weil diese Einsicht aber der liberalen Phantasmagorie von der didaktischen Gleichschaltung aller Lebensbereiche widerspricht, dürstet man nach klar identifizierbaren Abtrünnigen, an denen man sich abreagieren kann: ob das nun die leicht bekleidete Sängerin ist, der man die Unterwerfung unter den «Male Gaze» vorwirft, der Schauspieler, dessen Freundinnen man als zu jung erachtet, der CEO, der sich erdreistet, eine Affäre zu haben, oder die jungen Leute, die sich angeblich selbst ausbeuten, da sie Teil jener allerorts beanstandeten «Hook up»-Kultur sind. Wenn man die Lust der anderen schon nicht selber geniessen kann, muss man sie zumindest im Zeichen der Tugend als verkommen, obszön und schäbig schmähen.
Es ist insofern kein Zufall, dass von der Sexpositivität heute nur ein ausgehöhltes Ideal übrigbleibt. Alles soll befreit und gelöst, zugleich aber auch strikt geordnet, protokolliert und abgesichert sein. Mit dem neuen Puritanismus wird nur konsequent zu Ende geführt, was in der Sexpositivität von Anfang an beigelegt war: Wo Unvoreingenommenheit und Sinnlichkeit eine Direktive im Gefolge der allgemeinen Politisierung des Sexuellen darstellt und damit nur Mittel zum Zweck ist, teilt man mit der puritanischen Sicht auf Sexualität so einiges. Am Ende geht es beiden Seiten darum, das Unkontrollierbare und Abgründige aus der Sexualität zu verbannen, als wäre es nur störender Überschuss. Sie können nicht akzeptieren, dass das Sexuelle nicht komplett rationalisiert werden kann, und ziehen die transparente, sterile Unvernunft der risikoreichen Leidenschaft vor.
Ambivalenz des Sexuellen aushalten
Diese «Banalisierung des Sexuellen» (Volkmar Sigusch) entspringt der Vorstellung, mit genügend Kommunikation, Versprachlichung des Sexuellen und Verbannung all dessen, was an Kontrollverlust gemahnt, liessen sich harmonische Geschlechterverhältnisse herstellen. In der Realität kann man jedoch sehen, dass diese ethisch-sexualpolitische Neuorientierung neue Probleme entstehen lässt, während sie gleichzeitig altbekannte Schwierigkeiten nicht aufzulösen vermag. So haben junge Menschen heute so wenig Sex wie noch nie und entdecken lieber ihren Hang zur Asexualität oder flüchten sich in die unkomplizierte Welt der Internet-Pornografie.
Währenddessen gibt es selbst auf den noch mit «Sexpositivität» werbenden Feierlichkeiten regelmässig sexuelle Übergriffe – trotz Awareness-Team und dem Anspruch, Geborgenheit für alle zu bieten. Sogenannte «Post Consent»-Verfechter behaupten inzwischen sogar, dass Konsens allein nicht ausreiche, weil patriarchale Machtverhältnisse bis ins Schlafzimmer reichten. In Büchern wie «Rethinking Sex» von Christine Emba oder «The Case Against the Sexual Revolution» von Louise Perry wird diese Kritik dann so weit ausbuchstabiert, dass man am Ende wieder bei der Forderung nach Enthaltsamkeit und Sittenstrenge landet: Aus den «Involuntary Celibats», also den unfreiwillig Enthaltsamen (Incels), werden die «Voluntary Celibats», die ihre Not zur Tugend machen.
Erfüllte Sexualität ist und bleibt so für alle die ultimative Verheissung, auch für jene, die überall «Hypersexualisierung» und Übergriffigkeit wittern. Wer jedoch deswegen versucht, der Sexualität den zutiefst ambivalenten Charakter auszutreiben, der vergisst, dass es oft erst diese Ambivalenz ist, die die Erotik vom profanen Alltag abhebt.
Nico Hoppe ist freier Autor aus Leipzig.