Die Inflationsrate im Euro-Raum normalisiert sich, zugleich stagniert die Konjunktur. Deshalb rückt die Zinswende näher. Der Zeitpunkt ist aber umstritten. Noch gibt es Zweifel, dass die Inflation besiegt ist.
Die Diskussionen unter den Mitgliedern im EZB-Rat dürften hitziger werden. Davon gehen zumindest viele Beobachter aufgrund der divergierenden Äusserungen verschiedener Ratsmitglieder aus. Zwar stehen die Zeichen in der Euro-Zone auf Zinssenkung, doch über den richtigen Zeitpunkt ist man sich längst nicht einig.
Das mag auch daran liegen, dass die Inflationsraten im Euro-Raum erheblich auseinanderklaffen. Während die Teuerung in Österreich, Kroatien und Estland zum Teil noch deutlich über 4 Prozent notiert, ist sie in Italien und Lettland bereits unter 1 Prozent gefallen. Die EZB strebt für die Euro-Zone eine Inflationsrate von mittelfristig zwei Prozent an. Am Donnerstag liessen die «Währungshüter» die Leitzinsen einmal mehr noch unverändert. Damit liegt der Hauptrefinanzierungssatz weiterhin bei 4,5 und der Einlagensatz bei 4 Prozent.
Sinkende Inflationsrate, stagnierende Konjunktur
Wie so oft befindet sich die EZB in einem Dilemma, weshalb die Ausrichtung der Zinspolitik einem Balanceakt gleicht. Einerseits ist die Inflationsrate für die gesamte Euro-Zone in den vergangenen Monaten einigermassen kontinuierlich gesunken. Sie erreichte im Februar 2,6 Prozent, nach 2,8 Prozent im Januar. Die Teuerung nähert sich also langsam dem Ziel der EZB. Das liegt jedoch vor allem an den sinkenden Kosten für Energie. Die Preise für Lebensmittel und Dienstleistungen sind hingegen um weitere rund 4 Prozent gestiegen.
Zugleich stagniert die Konjunktur in der Euro-Zone, das grösste Mitgliedsland Deutschland befindet sich sogar in einer milden Rezession und in vielen Staaten ist die Industrie in einem heftigen Abschwung. Die hohen Zinsen wirken also. Die mässige wirtschaftliche Entwicklung veranlasst inzwischen jedoch einige Ratsmitglieder, über eine baldige Zinssenkung nachzudenken.
Andererseits notierte die Kerninflation, bei der die volatilen Preise für Energie, Lebensmittel, Alkohol und Tabak ausgeklammert werden, im Februar mit 3,1 Prozent (3,3 Prozent im Vormonat) immer noch auf einem hohen Niveau. Sie gilt Notenbankern als Indikator für den mittelfristigen Inflationstrend. Zwei wichtige Ursachen für das zähe Sinken der Kernrate sind der robuste Arbeitsmarkt in Europa und die daraus resultierenden hohen Tariflohn-Abschlüsse.
Die Arbeitslosenquote in der Euro-Zone liegt trotz konjunktureller Stagnation auf dem rekordtiefen Niveau von 6,4 Prozent. Zugleich haben die Tariflohn-Abschlüsse im vierten Quartal um 4,5 Prozent zugelegt, nach 4,7 Prozent im dritten Quartal. Die Löhne sind einer der wichtigsten Treiber der Inflation, weshalb die EZB vorsichtig mit schnellen Zinssenkungen ist. Einschlägige Indikatoren deuten zudem darauf hin, dass die Tariflöhne auch im Jahr 2024 um 4 bis 5 Prozent zulegen dürften. Insofern ist mit einem anhaltenden Inflationsdruck zu rechnen.
Darüber hinaus dürften zwei weitere Gründe die EZB-Ratsmitglieder zu einer vorsichtigen Gangart veranlassen. Die geopolitischen Risiken sind auch jenseits des Kriegs in der Ukraine immer noch hoch. Eine Ausweitung der Konflikte im Nahen Osten könnte zum Beispiel die Energiepreise und die Frachtraten für Container und Schüttgut nach oben treiben und so für eine Rückkehr der Inflation sorgen. Zudem hatte die Notenbank beim starken Anstieg der Teuerung im ersten Halbjahr 2022 viel zu spät reagiert und damit zum Anziehen der Teuerung beigetragen. Das soll wohl nicht noch einmal passieren.
Aufgrund dieser Gemengelage wollen Präsidentin Christine Lagarde und der EZB-Rat künftige Zinsentscheide weiterhin von den eintreffenden Daten abhängig machen. Wenngleich vor der jüngsten Zinssenkung einige internationale Kreditinstitute, etwa die Deutsche Bank und die UBS, bereits von einer ersten Zinssenkung im April ausgegangen sind, spricht vieles dafür, dass diese erst im Juni stattfinden wird.
Die Daten zur Entwicklung der Tariflöhne, Lohnkosten und Gewinnmargen für die Monate Januar bis März werden erst gegen Mitte bis Ende Mai veröffentlicht. Dann sehen die Ökonomen der EZB klarer, in welche Richtung sich die makroökonomischen Daten entwickeln.
Sollten sich die derzeitigen Trends bestätigen, wäre dann wohl der Weg frei für eine erste Zinssenkung im Juni. Teilnehmer an den Finanzmärkten erwarteten vor der heutigen Sitzung im Durchschnitt eine Zinsreduktion von einem Prozentpunkt im Jahr 2024. Doch das ist Zukunftsmusik, denn das Jahr ist noch sehr jung und es können sich noch viele Überraschungen ergeben, wie die vergangenen Jahre ausserordentlich oft gezeigt haben.
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