Die Gerichte verlangen, dass Frauen nach der Scheidung mehr arbeiten. Dies führt dazu, dass der Mann vielfach weniger Geld an die Ex-Partnerin abliefern muss.
Sobald eine Scheidung ansteht, beginnt das grosse Rechnen: Wer zahlt wie viel? Als Anschauungsbeispiel eignet sich eine vierköpfige Familie im oberen Mittelstand: Der Mann arbeitet zu 100 Prozent und verdient als Bankangestellter 12 000 Franken im Monat. Weil diese Familie eine traditionelle Rollenteilung pflegt, kümmert sich die Mutter, eine ausgebildete Primarlehrerin, bis zur Trennung vollzeitlich um die beiden Kinder im Alter von sechs und zehn Jahren.
Eine übliche Scheidungsvereinbarung sah laut Rechtsexperten bis vor kurzem so aus: Der Mann leistet eine Unterhaltszahlung in der Höhe von geschätzt 6900 Franken im Monat. Davon entfallen 3000 Franken auf den Kindesunterhalt, um die laufenden Kosten des Nachwuchses zu decken. Der Rest geht an die Mutter, die sich als Hausfrau um die beiden Kinder kümmert.
Die Gerichte sind jeweils davon ausgegangen, dass eine verheiratete Frau, die Kinder betreut, Anspruch darauf hat, ihren ehelichen Lebensstandard auch nach der Scheidung bis zur Pensionierung weiterzuführen.
Doch inzwischen hat sich diese Auffassung radikal gewandelt: Neu gilt für geschiedene Mütter der «Primat der Eigenversorgung». Womit beide Partner nach der Trennung grundsätzlich für den eigenen Unterhalt aufkommen müssen und die Zahlungen des Mannes deutlich tiefer ausfallen.
Im vorliegenden Fall wird für die Frau eine Teilzeitarbeit von 50 Prozent als zumutbar angesehen. Als Lehrerin kommt sie in diesem Pensum auf einen angenommenen Lohn von 3500 Franken im Monat: Somit dürften die Unterhaltszahlungen des Vaters laut Experten auf rund 4800 Franken sinken.
6900 oder 4800 Franken: Die Differenz im Beispiel ist massiv. Doch wie ist es möglich, dass sich die rechtliche Praxis innert kurzer Zeit so stark verändert? Die auf Scheidungsrecht spezialisierte Anwältin und Buchautorin Margherita Bortolani-Slongo spricht von einer «klaren Kehrtwende»: «Die Justiz meint es ernst mit der Gleichberechtigung: Heute hat die Ehe nicht mehr automatisch die Funktion einer Lebensversicherung für die Frauen, wie das früher häufig der Fall war.»
Die Kinder profitieren
Umgekehrt würden die Väter bei der Kinderbetreuung stärker in die Pflicht genommen, was Bortolani-Slongo positiv beurteilt: «Die neue Rechtsprechung ist zum Wohle der Kinder – deren Anspruch, auch eine väterliche Alltagsbetreuung zu bekommen, ist bisher zu oft vernachlässigt worden. Dass nun beide Elternteile für das Finanzielle wie auch für die Erziehung zuständig sind, sehe ich deshalb als wichtigen Fortschritt.»
Das Bundesgericht hat diesen Wandel mit mehreren spektakulären Leiturteilen geprägt. Der jüngste Fall betrifft ein geschiedenes Paar aus dem Kanton Zürich. Das Obergericht hatte den Mann dazu verpflichtet, Unterhaltsbeiträge von mehr als 10 000 Franken pro Monat zu bezahlen sowie 4800 Franken der Wohnkosten zu übernehmen.
Worauf der Mann Beschwerde erhob: Er argumentierte, seine gut ausgebildete Ex-Frau könne selbst für ihren Unterhalt aufkommen. Das höchste Gericht gab ihm recht und entschied, dass die Betreuung von Kindern allein nicht mehr genügt, um einen nachehelichen Unterhaltsanspruch zu rechtfertigen.
Zur Begründung hielt das Gericht fest, die Frau habe sich nach der Trennung freiwillig dazu entschieden, auf einen beruflichen Wiedereinstieg zu verzichten und sich ganz der Kinderbetreuung zu widmen. Der entscheidende Punkt liege darin, dass die Justiz heute viel höhere Hürden anwende, um eine Ehe als lebensprägend einzustufen, sagt der auf das Familienrecht spezialisierte Anwalt Diego Stoll. «Früher gingen die Gerichte vermutungsweise von einer lebensprägenden Ehe aus, wenn die Verheirateten gemeinsame Kinder hatten oder die Ehe über zehn Jahre gedauert hat.»
Gerichte erwarten, dass Mütter arbeiten
Die Justiz macht damit einen Schritt in Richtung Gleichstellung. Doch gleichzeitig steigt die rechtliche Unsicherheit. Für die Gerichte sei die Umsetzung sehr anspruchsvoll, erklärt Stoll. «Sie müssen in jedem einzelnen Fall abklären, ob eine Ehe das Leben der beiden Partner nachhaltig geprägt hat oder nicht. Wobei in der Regel beiden Ehegatten ein Vollzeitpensum zugemutet wird, wenn sie keine Kinder betreuen.»
So hat die Justiz auch die «45er-Regel» beerdigt: Bisher nämlich konnten geschiedene Frauen annehmen, dass eine Aufnahme der Erwerbstätigkeit nach dem 45. Altersjahr als nicht mehr zumutbar angesehen wurde. Was dazu führte, dass Scheidungsanwälte ihren Klientinnen explizit davon abrieten, in diesem Alter noch einen Job anzunehmen.
Wie sehr sich die Verhältnisse geändert haben, zeigt die Argumentation des Basler Appellationsgerichts: «Es ist davon auszugehen, dass ein grosser Teil der Mütter trotz Kinderbetreuung in der Lage ist, ihr familienrechtliches Existenzminimum mit ihrem eigenen Erwerbseinkommen zu decken.»
Um gewisse Leitplanken für die neue Rechtspraxis zu setzen, hat das Bundesgericht mit dem Schulstufenmodell definiert, ab wann der betreuende Elternteil einer Arbeit nachgehen muss. Demnach wird ab dem Eintritt des jüngsten Kindes in die obligatorische Schulpflicht (in vielen Kantonen ist dies bereits der Kindergarten) auch von der Mutter ein Arbeitspensum von 50 Prozent erwartet.
Ab der Oberstufe sind bereits 80 Prozent gefordert, und mit dem 16. Geburtstag steigt das vorausgesetzte Pensum auf 100 Prozent. Dies bedeutet eine erhebliche Verschärfung zu früher, als ein Wiedereinstieg in den Beruf bis zum 10. Altersjahr des Kindes warten konnte.
Die Ehe verliert an Popularität
Dieser Kurswechsel der Justiz sorgt für heftige Debatten: Soll man bei Scheidungen die Behandlung von Frauen und Männern angleichen? Eine skeptische Haltung vertritt Nadine Hoch, Geschäftsleiterin der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen: «Das Bundesgericht greift mit diesen Leiturteilen der gesellschaftlichen Realität vor. Denn die meisten Paare, insbesondere wenn sie Kinder haben, sind weit von einer egalitären Rollenverteilung entfernt.»
Es sei nicht die Aufgabe der Justiz, Gleichstellungspolitik zu betreiben, kritisiert Hoch. Anstatt beim Scheidungsrecht anzusetzen, solle man zuerst für einheitliche Rahmenbedingungen sorgen. Namentlich gelte es der Tatsache Rechnung zu tragen, dass bei Kindern nach wie vor die Mütter ihr Arbeitspensum reduzierten, während die meisten Väter keine Einbusse ihres Einkommens erlitten. Um diese Ungleichheit zu reduzieren, brauche es eine Individualbesteuerung, eine nationale Elternzeit sowie ein besseres Angebot bei der Kinderbetreuung.
Neue Familienformen seien eine gesellschaftliche Realität – genauso wie die Ehe an Bedeutung verliere, sagt Nadine Hoch. «Ich halte es für problematisch, wenn die Lasten- und Risikoteilung bei Paaren nach einer Trennung ungleich verteilt wird: Anstatt die unverheirateten betreuenden Personen zu schützen, werden nun die verheirateten betreuenden Personen schlechtergestellt.» Umso dringlicher wäre es nach ihrer Ansicht, dass die Politik neuartige Partnerschaftsmodelle nach dem Vorbild des französischen Pacte civil de solidarité entwickle, um weiterhin eine rechtliche Absicherung von Paaren zu ermöglichen.
Die Anwältin Bortolani-Slongo dagegen begrüsst es, dass sich das Scheidungsrecht mit der neuen Rechtsprechung von den traditionellen Rollenmustern löst. «Das Umdenken betrifft ja nicht nur die Mütter, welche sich stärker im Erwerbsleben engagieren müssen. Gleichermassen wird von den Vätern erwartet, dass sie sich aktiver bei der Kinderbetreuung einbringen.» Diese Entwicklung sei zuallererst im Interesse der involvierten Kinder.
Viel zu lange hätten die Gerichte die geschiedenen Männer zu reinen «Zahlvätern» degradiert, erklärt Bortolani-Slongo. «Dass Väter bei den Unterhaltszahlungen nun besser wegkommen, ist ja nur die eine Seite der Medaille. Denn gleichzeitig werden sie auch stärker in die Pflicht genommen und müssen sich mehr um die Kinder kümmern.»
«Die Uhren werden wieder auf null gestellt»
Gemäss dem Baselbieter Anwalt Diego Stoll geht die neue Praxis auf die Revision des Kinderunterhaltsrechts im Jahr 2017 zurück. «Dies hat eine starke Dynamik ausgelöst, denn die während der Beziehung gelebten Rollenmodelle sind für die Scheidungsurteile nicht mehr gleich entscheidend wie früher.» Stattdessen würden die Uhren wieder auf null gestellt.
Seit 2017 sieht das Gesetz vor, dass bei einer Trennung die alternierende Obhut der Kinder geprüft wird, wenn ein Elternteil oder das Kind dies wünschen. Parallel dazu wurde der sogenannte Betreuungsunterhalt eingeführt. Dadurch jedoch hat der nacheheliche Unterhalt an Bedeutung verloren.
Er empfehle jungen Paaren, sich die Aufteilung der Erwerbs- und Erziehungsarbeit sehr genau zu überlegen, sagt Stoll. «Angesichts der hohen statistischen Wahrscheinlichkeit einer späteren Trennung sollten gerade die Elternteile, die wegen der Betreuung zu Hause bleiben, bedenken, welche finanziellen Nachteile ihnen deshalb mittel- oder langfristig drohen.»
Dies gilt ebenso für das eingangs erwähnte Beispiel: Würde der Vater weniger arbeiten und zusätzliche Zeit für seine Kinder aufwenden, dann könnte er den Betreuungsunterhalt an die geschiedene Mutter weiter reduzieren. Denn womöglich wird von ihr deswegen ein höheres Arbeitspensum verlangt. Spätestens wenn das jüngere Kind in die Oberstufe kommt und die Mutter ihr Pensum auf 80 Prozent aufstocken muss, entfällt der Betreuungsunterhalt ohnehin.
Beim Jawort in der Kirche denkt noch kaum jemand an mögliche Unterhaltszahlungen. Trotzdem: Laut Studien gehört Geld zu jenen Themen, über die Paare am häufigsten streiten. Wer bereits weiss, wie die Gerichte bei einer Trennung rechnen, erspart sich zumindest den finanziellen Schock, falls die Beziehung doch einmal in die Brüche gehen sollte.