Wohin steuern die Zinsen, und werden sie künftig wieder so niedrig sein wie vor der Pandemie? Über diese Fragen zerbrechen sich Notenbanker die Köpfe – und orientieren sich dabei an Imaginärem.
Hohe Zinsen können die Wirtschaft in die Knie zwingen. Wenn sich Unternehmen, Haushalte und der Staat keine Kredite mehr leisten, erliegt das ökonomische Geschehen. Investitionen in Häuser, Maschinen oder Bildung unterbleiben. Doch auch das Gegenteil ist nicht zwingend besser, also sehr niedrige oder gar negative Zinsen. Denn wenn Geld fast nichts kostet, verführt dies zu Überschwang und Verschuldung. Die Gefahr von Spekulationsblasen steigt. Und bestraft werden jene, die gewissenhaft sparen.
«Wir kennen ihn nur durch seine Werke»
Irgendwo zwischen den beiden Extremen existiert aber ein Optimum. Also ein Zinsniveau, bei dem die Wirtschaft weder gebremst noch beschleunigt wird, sondern in sich ruht. Ein neutraler Zins, bei dem alles so ist, wie es sein sollte: Die Inflation liegt dort, wo die Notenbank sie haben will, und die Firmen produzieren so viel, wie ihre Kapazitäten erlauben. Ökonomen bezeichnen diesen Zins, der die Wirtschaft ins Gleichgewicht bringt, als R-Stern (r*). Er signalisiert, wo sich das Zinsniveau langfristig hinbewegen sollte.
Das Problem: Anders als der Polarstern, der Schiffskapitänen früher das Navigieren in dunkler Nacht erleichterte, ist der R-Stern unsichtbar. Die Notenbanker können auf der Suche nach Orientierung noch so lange in den Himmel oder in Statistiken schauen: Sie sehen nichts. Denn der R-Stern ist ein theoretisches Konstrukt, er existiert nur in den Köpfen. «Wir kennen ihn nur durch seine Werke», sagt der amerikanische Notenbankchef Jerome Powell. Nie klingen Zentralbanker metaphysischer, als wenn sie über den R-Stern reden.
Derzeit beraten sie sich in Seoul. «Die Evolution des natürlichen Zinses und seine Bedeutung für die Weltwirtschaft» lautet das Thema einer dort stattfindenden Konferenz. Notenbanker und Ökonomen aus aller Welt nehmen teil, das Interesse ist gross. Denn das Zinsgefüge ist seit der Rückkehr der Inflation in Bewegung geraten, und niemand weiss, wo die Reise endet. Zwar scheint der Zinsgipfel überwunden. Doch offen bleibt, ob man je wieder auf so niedrige Niveaus zurückkehren wird wie vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Jordans Schätzung für die Schweiz
Das Eröffnungsreferat in Seoul hielt Thomas Jordan. Der Präsident der Schweizerischen Nationalbank (SNB), der Ende September zurücktreten wird, hat bisher meist geschwiegen zur Frage, wo die SNB die Höhe des R-Sterns sieht. In Seoul zeigte er sich offener: Mit Blick auf den Entscheid vom März, den SNB-Leitzins von 1,75 auf 1,5 Prozent zu senken, sagte Jordan, man sei damals von einer R-Stern-Schätzung von rund 0 Prozent ausgegangen. Wobei es derzeit Gründe zur Annahme gebe, dass der Zins bereits etwas höher sei oder in den kommenden Jahren steigen könnte.
Wieso ist die Aussage wichtig? Weil sie Rückschlüsse zulässt zur Frage, ob die SNB ihre Geldpolitik als expansiv, neutral oder restriktiv beurteilt. Denn der R-Stern gilt als Referenzpunkt für die Geldpolitik. Liegt dieser imaginäre Satz ungefähr auf der Höhe der realen Zinsen, wirkt die Geldpolitik neutral. Mit Blick auf die Schweiz wäre das derzeit der Fall. Zieht man nämlich vom SNB-Leitzins (1,5 Prozent) die Inflation von 1,4 Prozent (April) ab, liegt der resultierende Realzins mit 0,1 Prozent hauchdünn über der von Jordan genannten Schätzung.
Ob die SNB tatsächlich eine neutrale Geldpolitik betreibt, ist umstritten. Die Antwort hängt davon ab, ob die Schätzung für den R-Stern halbwegs zuverlässig ist. Das zu beurteilen, ist schwierig, weil der Zins ja nicht direkt messbar ist. Auch Jordan sagte in Seoul, die Schätzung des R-Sterns sei mit grosser Unsicherheit behaftet. Entsprechend irreführend sei es, eine exakte Zahl zu publizieren. Heikel sei aber auch, ein breites Band an Schätzungen zu veröffentlichen, da dies den Eindruck erwecke, man verfüge nur über sehr begrenzte Informationen zum geldpolitischen Kurs.
Vor einer Kehrtwende?
Letztlich stochern auch Notenbanken im Nebel, wenn es darum geht, den neutralen Zinssatz und somit einen Fixpunkt für ihre Politik zu verorten. Wenig umstritten ist allein, dass die Realzinsen – und damit wohl indirekt auch der R-Stern – in den letzten Jahrzehnten deutlich gesunken sind. Seit den späten 1980er Jahren sind sie in den grossen Industrieländern von rund 4 Prozent bis unter 0 Prozent in den zehn Jahren nach der Finanzkrise gefallen. Dieser Trend ist mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vorerst zu Ende gegangen.
Wie ist der jahrzehntelange Abwärtstrend zu erklären? Oft wird als Grund genannt, dass weniger investiert und mehr gespart wurde. Das führte zu einem steigenden Angebot an Kapital, wodurch die Zinsen sanken. Der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke sprach von einer Sparschwemme («Saving Glut»). Diese schien eine Folge der alternden Bevölkerung in Industrieländern zu sein. Als weitere Gründe genannt wurden ein schwächeres Produktivitätswachstum und die Integration von Schwellenländern wie vor allem China in die Weltwirtschaft.
Davon ist heute keine Rede mehr. Denn in den vergangenen zwei Jahren sind die Realzinsen wieder gestiegen. Das spiegle hauptsächlich die geldpolitische Straffung, sagt Jordan. Die Entwicklung werfe aber auch die Frage auf, ob der R-Stern erneut gestiegen sei, ob also der seit den späten 1980er Jahren zu beobachtende Trend gekehrt habe. Der SNB-Präsident ist diesbezüglich eher skeptisch. Noch sei es zu früh, «als dass wir beurteilen könnten, ob eine Umkehr des weltweiten Abwärtstrends des Realzinses bereits stattfindet».
Blick auf Reales statt Unsicheres
Andere Notenbanker sind forscher. Isabel Schnabel, Direktorin der Europäischen Zentralbank, meinte im März, nach grossen Schocks komme es historisch oft zu Umschwüngen beim Realzins. Als Grund, dass ein Wendepunkt auch heute bevorstehe, verwies sie auf den höheren Investitionsbedarf etwa aufgrund des Klimawandels, der digitalen Transformation oder geopolitischer Verschiebungen hin. Sie ging so weit, den heutigen Investitionsbedarf zu vergleichen mit dem teuren Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Diskussion über den R-Stern kippt oft ins Ideologische. Weil man niemandem beweisen kann, dass er falschliegt, kann auch fast alles behauptet werden. Aus den vielen Modellen, die den Zins schätzen, findet sich immer eines, das die eigene Meinung stützt. Für die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ist der R-Stern daher ein «verschwommener Wegweiser». Sie rät den Notenbanken, ihr Tun besser an der tatsächlichen Inflation auszurichten, statt sich auf unsichere Mutmassungen abzustützen. Das ist zweifellos eine kluge Empfehlung.