Der CEO des Versicherungskonzerns sieht wegen des Handelskriegs das Risiko einer globalen Rezession. Was den Wohnungsmangel betreffe, könne sein Konzern als grosser Immobilieneigentümer Teil der Lösung sein, sagt er im Interview.
Matthias Aellig hat in seinem Büro am Hauptsitz der Swiss Life eine der besten Aussichten der Stadt: Der CEO des Versicherungskonzerns Swiss Life blickt direkt auf den Zürichsee. Doch so idyllisch das Bild auch ist – in der Weltwirtschaft zieht ein Sturm auf, dem sich auch Swiss Life nicht entziehen kann.
Herr Aellig, als Versicherer müssen Sie ein Profi sein im Umgang mit Risiken. Wie ernst haben Sie die Gefahr eines von den USA ausgehenden Handelskriegs genommen?
Der US-Präsident hat in der Vergangenheit nie ein Hehl daraus gemacht, dass er protektionistisch denkt. Neu ist aber: Es gibt offenbar keinen Trump-Put mehr.
Was meinen Sie damit?
In der ersten Amtszeit reagierte Präsident Trump jeweils, wenn die Märkte unter Druck kamen. Er hat seine erste Präsidentschaft stark mit der Börse verknüpft. Jetzt sehen wir: Auch wenn die Kurse massiv fallen, reagiert er nicht sofort. Das wurde in den ersten Tagen nach der Ankündigung vom 2. April deutlich. Wir hatten das anders erwartet, wie viele andere auch.
Haben Sie Risiken ausgeblendet?
Nein. Im Moment ist alles sehr unübersichtlich. Die Märkte sind nervös, die Lage ist volatil. Vielleicht reagiert Präsident Trump trotzdem noch und versucht, das Vertrauen wiederherzustellen, etwa über Verhandlungen.
Wie beurteilen Sie die wirtschaftlichen Konsequenzen der neuen Zölle?
Für uns als Unternehmen ist das direkte Risiko überschaubar. Wir haben kein Geschäft in den USA, sind aber indirekt über die Kapitalmärkte betroffen.
Das heisst?
Selbst wenn die Zölle bestehen blieben, rechnen viele Experten nur mit einem moderaten Rückgang des Wirtschaftswachstums in den USA, um einen halben bis ganzen Prozentpunkt. Das klingt nach wenig, aber es könnte in den USA zu einer Rezession führen.
Sie sagen also: Die Marktreaktion in den vergangenen Tagen war übertrieben?
Wir sind langfristig investiert, wir beurteilen nicht jede Tagesbewegung. Aber klar ist: Wenn die Eskalationen und der Vertrauensverlust weitergehen, kann sich die Lage deutlich verschärfen. Dann reden wir schnell über eine globale Rezession.
Weshalb?
Die Zölle sind das eine. Noch gefährlicher ist es, wenn Konsumenten und Unternehmen das Vertrauen verlieren. Dann wird weniger konsumiert, weniger investiert. Dann hätte die Weltwirtschaft ein echtes Problem.
Wie hoch schätzen Sie diese Wahrscheinlichkeit ein?
Im Herbst, als wir unsere Planung gemacht haben, lag sie bei vielleicht 25 Prozent. Es ist zu früh, um eine exakte Zahl zu nennen, aber das Risiko ist klar gestiegen. Ich würde sagen: 40 Prozent, vielleicht sogar gegen 50.
Wie wird sich die Geldpolitik in der Schweiz weiterentwickeln, vor allem im Lichte eines möglichen globalen Abschwungs?
Das kommt ganz auf den Verlauf an. Wir unterscheiden derzeit zwei Szenarien: Entweder gelingt es, das Vertrauen teilweise wiederherzustellen, dann bleibt es bei einem moderaten Wachstumsrückgang. Oder wir rutschen in eine globale Rezession. Dann muss sich auch die Schweizerische Nationalbank neu positionieren.
Rechnen Sie mit Negativzinsen?
Unsere Hausmeinung ist derzeit: Der Leitzins bleibt bei 0,25 Prozent. Aber das kann sich ändern. Sollte sich das globale Rezessionsszenario weiter erhärten, sind auch erneute Zinssenkungen möglich. Und ja, auch Negativzinsen sind dann wieder ein Thema.
Sie sagen das, ohne zu zögern.
Ja. Wir wurden schon im Dezember darauf angesprochen. Damals war unsere Antwort klar: Die Nationalbank hat dieses Instrument im Werkzeugkasten, aber es war nicht Teil unseres Basisszenarios. Wir sahen diese Möglichkeit für den Fall eines schlechten Szenarios: Dieses ist nun wahrscheinlicher geworden.
Was würden erneute Negativzinsen für Swiss Life bedeuten?
Wir haben Erfahrung mit solchen Phasen. Zwischen 2014 und 2021 hatten wir Negativzinsen, und wir haben uns in dieser Zeit gut behauptet. Unser Lebensversicherungsgeschäft war profitabel, die Finanzberatung wuchs, das Gebührengeschäft konnten wir weiter ausbauen. Das ist eine unserer Stärken: Wir funktionieren auch im Tiefzinsumfeld.
Als einer der grössten privaten Immobilieneigentümer der Schweiz wäre ein solcher Zinsrückgang für Sie sogar von Vorteil.
Niedrige Zinsen stützen die Immobilienbewertungen. Aber wir halten unsere Immobilien nicht wegen der Bewertungsgewinne, sondern wegen der laufenden, stabilen Mieterträge, um damit die Renten unserer Kundinnen und Kunden zu finanzieren. Die Mieterträge sind inflationsgeschützt und über viele Jahre planbar. Das ist der Kern unserer Strategie.
Planen Sie, Ihr Immobilienportfolio auszubauen?
Wir liegen bei knapp 30 Prozent Immobilien auf der Bilanz. Wir bewirtschaften das Portfolio aktiv. In den letzten Jahren war der Anteil stabil. Das wird auch perspektivisch so bleiben.
Und ausserhalb der Bilanz, im Drittkundengeschäft?
Dort richten wir uns nach der Nachfrage unserer Kunden: Sie wünschen sich Immobilienanlagen, zu Recht. Sie bieten stabile laufende Erträge und Inflationsschutz. Wir erzielen auf unsere Bestandsimmobilien laufende Erträge von 2,5 Prozent. Das ist deutlich mehr als die Rendite auf Schweizer Bundesanleihen von gegenwärtig 0,4 oder 0,5 Prozent.
Aber mehr Rendite heisst auch mehr Risiko.
Einen Free Lunch gibt es nicht – auch nicht bei Immobilien. Aber Schweizer Immobilien sind eine stabile Anlageklasse. Warum? Weil die Nachfrage da ist. Wohnraum ist knapp, auch Büroflächen sind gefragt, vor allem an sehr guten Lagen.
Die Nationalbank und die Finma warnen seit vielen Jahren vor Überbewertungen am Immobilienmarkt. Sind diese eine Gefahr für Swiss Life?
Diese Warnungen hören wir seit bald 25 Jahren. Und ja, es gibt Segmente, wie Eigentumswohnungen und Einfamilienhäuser, bei denen die Wertsteigerungen in den letzten 20 Jahren sehr viel höher waren als in unserem Portfolio mit Mietwohnungen und kommerziellen Liegenschaften. Das muss man differenzierter betrachten.
Als einer der grössten Immobilienbesitzer der Schweiz mit gegen 40 000 Wohnungen stehen Sie auch im Fokus der Politik. Sehen Sie Swiss Life in der Pflicht, zur Linderung der Wohnungsnot beizutragen?
Wir sind Teil der Gesellschaft. Wir sehen die Wohnungsknappheit, vor allem im Mietwohnungsbereich. Unser Beitrag ist: Wir bauen neue Mietwohnungen, wenn es möglich und attraktiv ist.
Was meinen Sie damit?
Baurecht, Planungssicherheit, klare und schlanke Verfahren: Das sind die Voraussetzungen. Häufig scheitert es nicht am Willen, sondern an der Umsetzung. Wir möchten gerne bauen. Aber es braucht die richtigen Rahmenbedingungen.
Von linker Seite wird oft gefordert, der Staat solle mehr bauen, um die «renditegierigen privaten Investoren» wie Swiss Life zu bremsen. Was sagen Sie zu solcher Kritik?
Wir sehen solche Vorschläge skeptisch. Es braucht zur Lösung der Wohnungsknappheit alle: die öffentliche Hand, Genossenschaften, Private und institutionelle Investoren. Wenn man Letzteren systematisch Hürden in den Weg stellt, erreicht man das Gegenteil. Das Angebot sinkt, und die Mieten steigen weiter.
Können Sie Beispiele nennen?
Ein Blick nach Basel reicht. Dort gab es Regulierungen wie den Mietzinsdeckel. Die Folgen sind deutlich weniger Baugesuche, weniger Sanierungen und weniger Neubauten. Das hat das Problem verschärft. Es ist ein einfacher ökonomischer Zusammenhang: Wenn das Angebot zurückgeht und die Nachfrage bleibt, steigen die Preise.
Genf reguliert die Mieten schon länger sehr streng.
Genf hat sehr viele veraltete Gebäude. Viele Immobilien werden nicht mehr saniert oder dekarbonisiert, weil es sich schlicht nicht mehr lohnt. Wer investieren will, muss auch anpassen dürfen. Sonst bleiben Ölheizungen einfach drin. Das ist nicht nachhaltig.
Investieren Sie noch in Basel und Genf?
In Basel haben wir einen modernen Gebäudepark, den betreiben wir natürlich weiter. Aber neue Wohnbauprojekte prüfen wir dort sehr kritisch. In Genf haben wir in den letzten Jahren eher in Bürogebäude investiert. Wenn wir nicht sicher sein können, dass sich eine Investition lohnt, lassen wir es. Wir dürfen kein Geld verlieren, nur um politisch gut dazustehen. Unsere Aufgabe ist es, langfristig stabile Erträge zu erzielen, im Interesse unserer Versicherten. Und dazu braucht es Investitionssicherheit.
Warum funktionieren Mietzinsdeckel aus Ihrer Sicht nicht?
Sie führen zu einer Zweiteilung des Marktes. Es gibt günstige Wohnungen, aber dort passiert nichts mehr. Und neue Wohnungen entstehen kaum. Die, die umziehen wollen oder müssen – weil sie alt sind oder weil sie in die Stadt kommen –, finden nichts. Oder nur zu hohen Preisen. Die Lösung ist nicht mehr Regulierung, sondern mehr bauen.
Sie besitzen auch Büroimmobilien. Gab es schon Fälle, in denen Sie Büroflächen in Wohnraum umgewandelt haben?
Ein-, zweimal haben wir das geprüft und verworfen. Aber das sind ohnehin Ausnahmen. Unsere Büroimmobilien sind sehr gut gelegen und nachgefragt. Wir sehen keine Notwendigkeit für Umnutzungen.
Aber der Home-Office-Trend ist Gift für das Geschäft mit Bürogebäuden. Sind sie noch eine gute Anlage?
Wir glauben weiterhin an Büroflächen, aber an die richtigen. Die Grundrisse verändern sich: weniger Cubicles, mehr Sitzungsräume, mehr Kollaborationsflächen. Wenn Menschen zusammenarbeiten, kreativ sein oder Neues entwickeln wollen, braucht es physische Begegnungen. Das geht nicht im Home-Office. Wir sehen deshalb keinen strukturellen Rückgang der Nachfrage, zumindest nicht an Toplagen.
Wie sieht das bei Swiss Life intern aus, dürfen Ihre Mitarbeiter Home-Office machen?
Wir haben bewusst keine zentralen Vorgaben gemacht. Wir glauben an den persönlichen Austausch und an Eigenverantwortung. Unsere Führungskräfte kennen ihre Teams, ihre Aufgaben. Das funktioniert besser als jede Einheitslösung.
Die Schweiz wächst, aber altert auch. Was bedeutet der demografische Wandel für Swiss Life?
Die Schweiz bleibt ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Wir haben eine starke Nettozuwanderung. Sie kompensiert die gesellschaftliche Überalterung und den Geburtenrückgang – das hilft dem Arbeitsmarkt, dem Konsum, dem Immobilienmarkt.
Sie befürworten also das geplante Paket von Verträgen mit der EU?
Unser Versicherungsgeschäft ist nicht direkt betroffen. Wir haben seit Jahrzehnten ein separates Finanzdienstleistungsabkommen. Das gibt uns Rechtssicherheit in der EU. Das war richtigerweise auch nie Teil der Rahmenverhandlungen.
Also tangiert Sie die EU-Debatte nicht?
Nur indirekt. Aber wir beobachten den politischen Prozess genau. Denn unabhängig von dessen Ausgang muss die Schweiz wirtschaftlich attraktiv bleiben: Es ist Sache der Politik, für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung mit einem liberalen Arbeitsmarkt und einer klugen Steuerpolitik zu sorgen. Das ist entscheidend für unsere Position als Unternehmen und für den Standort Schweiz insgesamt.
In der Schweiz bauen Sie gerade das Anlagegeschäft aus. Konkurrenzieren Sie damit die Banken?
Wir wollen neben der Lebensversicherung und der beruflichen Vorsorge ein drittes Standbein: Vermögensverwaltung für Privatkunden. Wir zielen aber nicht auf klassische Private-Banking-Kunden. Wir sehen uns zwischen Retail-Bank und Privatbank. Viele Menschen haben Vermögen, aber keine Bank, die sich um sie kümmert. Genau dort setzen wir an. Und wir bringen Vorsorgekompetenz mit, die uns von anderen unterscheidet.
Wie gross wollen Sie in diesem Geschäft werden?
Ende 2023 hatten wir Vermögen in der Höhe von rund 4,5 Milliarden Franken. Bis 2027 sollen es 9 Milliarden sein.
Die Zinsen sind wieder sehr niedrig – und Minuszinsen sind nicht vom Tisch. Welche Zukunft hat die Lebensversicherung in diesem Kontext?
Die Lebensversicherung hat Zukunft, mit und ohne hohe Zinsen. Und es wird immer Menschen geben, die auch ihre Langlebigkeit absichern wollen. Auch im Tiefzinsumfeld haben wir gezeigt, dass man mit den richtigen Produkten erfolgreich sein kann.
Chef des grössten Lebensversicherers
Matthias Aellig, 54 Jahre alt, hat an der Universität Bern Physik studiert und promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt am MIT wechselte er als Berater zu McKinsey in Zürich. 2003 ging er in die Versicherungsbranche und trat in die Winterthur Gruppe ein. 2007 fing er bei Zurich an, bevor er im Jahr 2010 Chief Risk Officer der Swiss-Life-Gruppe wurde. Nach fünf Jahren als Finanzchef wurde er im Mai 2024 CEO von Swiss Life. Aellig gehört dem Vorstand der Zürcher Handelskammer, der Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft und dem Stiftungsrat von Avenir Suisse an.