Der ZSC hat die beste Qualifikation seiner Geschichte gespielt und startet als grosser Titelfavorit in die Play-offs gegen Biel. Kann er den Erwartungen endlich gerecht werden?
Na ja, sagt Sven Andrighetto, als er sich im Sommer 2020 den ZSC Lions angeschlossen habe, habe er das vor allem aus zwei Gründen getan: weil er Zürich liebe, seine Heimatstadt, was mehr als eine Floskel ist: Das Grossmünster prangt als Tattoo auf seinem Oberschenkel. Und: weil er endlich Titel habe gewinnen wollen. «Und das ist bis jetzt nicht passiert. Es ist Zeit, das zu ändern», sagt er. Es klingt fast entschuldigend – und kämpferisch.
Andrighetto wird in wenigen Tagen 31, er hat Karriere gemacht, war in Russland und den USA. Aber in puncto Titel hat er Nachholbedarf. Ein einziges Mal hat er das letzte Saisonspiel gewonnen: 2010 als junge Aushilfskraft im EHC Visp in der Nationalliga B.
In drei Jahren im ZSC hat sich daran nichts geändert; die jüngere Geschichte dieses Klubs ist geprägt von Enttäuschungen. 2021 scheiterten die Zürcher mit Andrighetto als überragendem Topskorer im Halbfinal mit 0:3 Siegen an Genf/Servette, 2022 verspielten sie im Final gegen Zug eine 3:0-Führung. 2023 hatten sie Biel im Halbfinal wenig entgegenzusetzen: 0:4.
Es ist eine ungenügende Bilanz – gemessen an der Erwartungshaltung und den finanziellen Aufwendungen dieser Organisation. Der ZSC ist in seinem Selbstverständnis nicht erst seit dem Einzug in die Swiss-Life-Arena von 2022 die Vorzeigeorganisation im Schweizer Eishockey, die Klubmanager geben mit einer gewissen Forschheit die Politik in der Liga vor.
Ihr ausgeprägtes Selbstvertrauen verlässt sie eigenartigerweise nur dann, wenn es um Zahlen geht. Wenn man im Schweizer Eishockey zehn Leute fragt, die es wissen müssen – Funktionäre, Manager, Agenten, Spieler, Verwaltungsräte –, wer über das höchste Budget der Liga verfügt, dann lautet die Antwort neun Mal: der ZSC. Aber man hört das nicht gerne in Zürich, es wird negiert und relativiert. Man könnte die Debatte mühelos beenden, indem man die Zahlen offenlegt. In den letzten zwei Jahren haben das gegenüber der Liga nur zwei Teams nicht getan: der SC Bern und der ZSC.
Fakt ist, dass der solvente Präsident Walter Frey seit Jahren sicherstellt, dass es in jeder Hinsicht an nichts mangelt. Die Zürcher haben in den letzten Jahren viel Geld in ihr Kader investiert, sie holten Andrighetto, Dean Kukan, Denis Malgin und Yannick Weber aus dem Ausland zurück. Sie setzen mit ihrer gigantischen Nachwuchsorganisation Standards. Ihr Frauenteam ist zuletzt zwei Mal in Folge Meister geworden.
Del Curto, Wallson, Grönborg: Bei der Besetzung des Trainerpostens gab es jüngst viele Missverständnisse im ZSC
Aber die erste Mannschaft, das Flaggschiff, hat in den letzten neun Jahren einen einzigen Titel gewonnen. Man kann das stundenlang mit den blumigsten Ausflüchten schönreden, es ändert nichts daran, dass das schlicht nicht gut genug ist.
Immer wieder griff die sportliche Führung bei der Trainerwahl daneben: Beim Duo Hans Wallson / Lars Johansson war das 2016 so – Wallson arbeitet inzwischen in der zweiten norwegischen Liga als Assistent. Und Johansson wurde im Dezember in der gleichen Funktion in Zug entlassen, weil er den Ansprüchen des fordernden Cheftrainers Dan Tangnes nicht genügt hatte.
Der ZSC schadete sich mit der Nostalgie-Verpflichtung von Arno Del Curto. Auch Rikard Grönborg war letztlich ein Missverständnis, weil er die ZSC-Kultur in drei Jahren nie richtig zu verstehen schien. In der Stunde der Not erinnerten sich die Macher im Dezember 2022 an Marc Crawford, den Meister-Coach von 2014. Crawford ist 63, der ZSC ist womöglich die letzte Station seiner 35-jährigen Trainerkarriere. Er ist kein Projekt wie Luca Gianinazzi, der Coach Luganos, der noch nicht einmal geboren war, als Crawford schon in der AHL Cheftrainer war.
Crawford ist ein Coach für heute, und nach den enttäuschenden Play-offs im Vorjahr steht er vor den Wochen der Wahrheit. Hier und dort war in diesem Winter von sanften Irritationen zu hören, die an dieser Stelle nicht vertieft werden müssen, weil vor allem zählt, dass der ZSC mit 109 Punkten einen Klubrekord aufgestellt hat und die beste Qualifikation seit dem Titel von 2014 spielte.
Der ZSC stellte die stabilste Defensive und das disziplinierteste Team. Der Torhüter Simon Hrubec verzeichnete statistische Werte jenseits der Vorstellungskraft; sie waren besser als jene, die die Klubikone Ari Sulander erreicht hatte. Das Team wirkt um Längen gefestigter, besser austariert, breiter als im Vorjahr, als die Center-Position zum Problem wurde und die Stürmer Garrett Roe und Justin Azevedo ihre Ausländerlizenz kaum wert waren. Im derzeitigen Quintett Balcers, Fröden, Grant, Lammikko und Lehtonen gehören sämtliche Akteure zur gehobenen Klasse.
Der Teamleader Andrighetto steht am Montagmittag im Kabinengang, es ist der letzte Medientermin vor den Play-offs. Auf die Frage, ob das hier das beste Team seit seiner Rückkehr sei, antwortet er: «Ja, ich denke schon. Unsere grösste Stärke ist die Kadertiefe.» Sie ist so gut wie vielleicht noch nie in der Geschichte dieser Organisation. Der ZSC konnte es sich leisten, mehrere Ergänzungsspieler während der Saison abzugeben, nach Ajoie, zum HC Davos – mit dem Angreifer Jérôme Bachofner sogar an den Viertelfinalgegner Biel. Und trotzdem blieb Crawford die Qual der Wahl, regelmässig sassen in der Swiss-Life-Arena klingende Namen überzählig auf der Tribüne.
Andrighetto und sein lädiertes Handgelenk
Diese Qualitätsdichte gab es in den letzten Jahren nicht immer: In der dramatisch verlorenen Finalserie gegen Zug war die Abhängigkeit vom Duo Malgin/Andrighetto so gross, dass sie etwas Lähmendes hatte. Im Vorjahr spielten mehrere Akteure verletzt, der nun bei Gottéron aufblühende Schwede Lucas Wallmark und auch Andrighetto etwa mit schmerzhaften Brüchen. Letzterer liess sich unmittelbar nach der Saison am Handgelenk operieren. Und doch handicapiert ihn die Verletzung noch immer: Er spielt mit einer Schiene, hin und wieder muss er zu Schmerztabletten greifen.
Es ist erstaunlich, dass ihm in der Qualifikation trotzdem 31 Skorerpunkte in 40 Partien gelungen sind. Er sagt: «Es ist nicht das gleiche Gefühl, wie wenn man die Hand direkt am Stock hat. Aber ich komme klar, das Selbstvertrauen ist wieder da.» Gesund ist Andrighetto einer der mitreissendsten Schweizer Stürmer. Der ZSC wird seine Einfälle und seine Abschlussstärke brauchen, will er den Titel holen.
Ein paar Meter von Andrighetto entfernt steht ein entspannt wirkender Marc Crawford. Er sagt, dass er in der Mannschaft einen ausgeprägten Erfolgshunger ausmache. Es wäre fatal, wenn es anders wäre, der ZSC ist schliesslich kein Serienmeister, der sich an Titeln übersättigt hätte.
Vor dem Auftakt zu diesen Play-offs ist der ZSC der klare Titelfavorit. Das sagen die Buchmacher, das sagt die Logik, das sagen die Zahlen. Der Titelhalter Genf/Servette hat es nicht einmal in die Play-offs geschafft, Zug ist abgestürzt, der SC Bern in der Verteidigung allzu langsam. Und Gottéron hat unter Christian Dubé in sieben Jahren eine einzige Play-off-Serie gewonnen.
Gewiss: Die Play-offs und der Sport haben eigene Gesetze. Aber gegenwärtig braucht es einiges an Phantasie, um es einem der verbliebenen Widersacher zuzutrauen, diesen ZSC in einer Best-of-Seven-Serie zu bezwingen. Vielleicht kann sich Biel noch einmal aufrichten, ein als Mitfavorit gestartetes Team, das bis auf Platz 9 abstürzte und sich das Viertelfinalduell mit Zürich erst mit zwei Play-in-Serien verdienen musste. Das dürfte reichlich Energie gekostet haben. Aber womöglich hat die Entlassung des Trainers Petri Matikainen drei Runden vor dem Ende der Qualifikation Kräfte freigesetzt. Matikainen hatte sich intern wiederholt massiv im Ton vergriffen, seine Verabschiedung muss sich für die Spieler wie eine Befreiung angefühlt haben.
Unser Viertelfinal-Gegner ist bekannt: EHC Biel ⚔️
Am Samstag geht’s los. Puckdrop um 20:00 Uhr in der Swiss Life Arena 🏟️
Die Aktion «Alle in Weiss in die Swiss Life Arena» soll der Mannschaft noch einen besonderen Kick verleihen. Damit zeigen die Fans ihre Unterstützung und… pic.twitter.com/Ge2DbT1NLJ
— ZSC Lions (@zsclions) March 13, 2024
Biel kann ein gefährlicher Gegner sein, aber fast alle Vorteile liegen beim ZSC. Die Frage an den vertraglich bis 2025 gebundenen Crawford: Käme alles andere als der zehnte Meistertitel für den ZSC nicht einem Versagen gleich? Der Trainer ist zu lange im Geschäft, als dass man ihn so leicht in Verlegenheit bringen könnte. Er sagt: «Man weiss nie, was geschieht. Wir wollen unser Potenzial abrufen, darum geht es in erster Linie.»
Das Potenzial abrufen. Eigentlich reicht das ja bereits, weil es keine zwei Meinungen darüber gibt, dass der ZSC über das beste Kader der Liga verfügt. Oft genug hat das nicht genügt, um Ende April im Konfettiregen zu stehen. Bleibt der ZSC wieder auf der Strecke, wird der Klub nicht um personelle Veränderungen herumkommen. Es gilt, was die NZZ schon im September schrieb: Jetzt muss der Titel her.