Braucht es in Zürich eine Amtszeitbeschränkung? Thomas Widmer, Politikwissenschafter an der Universität Zürich, kennt die Vor- und Nachteile – und nennt den idealen Zeitpunkt, um abzutreten.
In einem Jahr wählt die Stadt Zürich eine neue Regierung. Der neunköpfige Stadtrat wird zu jenem Zeitpunkt über 100 Amtsjahre vereinen – ein sehr hoher Wert.
Allein die Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) wird dann seit 17 Jahren im Amt sein, und sie spielt mit dem Gedanken, noch einmal 4 Jahre anzuhängen. Beim Finanzvorsteher Daniel Leupi (Grüne), der bereits eine erneute Kandidatur angekündigt hat, und beim Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) sind es je 16 Jahre.
Wird die grösste Stadt der Schweiz von Sesselklebern regiert – und ist das ein Problem? Der Politikwissenschafter Thomas Widmer lehrt an der Universität Zürich und beobachtet die hiesige Politik genau.
Herr Widmer, sind derart lange Amtszeiten, wie wir sie in Zürich sehen, gesund in einer Demokratie?
Sicherlich würde sich eine gewisse Erneuerung anbieten. Es liegt jedoch in den Händen der Wählerinnen und Wähler, über die Zusammensetzung des Stadtrats zu entscheiden. Wenn die Wählerschaft der Ansicht ist, dass der Stadtrat in dieser Zusammensetzung weitermachen soll, ist dies im Sinne einer gesunden Demokratie zu respektieren.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine ideale Amtsdauer?
Robuste Forschung zu dieser Frage gibt es meines Wissens nicht. Die ideale Amtsdauer ist abhängig von individuellen Faktoren, vom Amt und von der Person. Zumeist erachte ich aber eine Dauer von zwei bis drei Legislaturen – also acht bis zwölf Jahre – für sinnvoll. Das heisst aber nicht, dass in jedem Fall eine kürzere oder längere Amtszeit nicht auch Sinn ergibt.
In Zürich sind die Amtszeiten der heutigen Stadtratsmitglieder mit durchschnittlich neun Jahren besonders lang. In Basel ist es die Hälfte, im Bundesrat noch weniger. Gibt es Konstellationen, die lange Amtszeiten begünstigen?
Wenn die Personen mit den Anforderungen des Amtes gut umgehen können, bleiben sie wohl in der Tendenz länger. Klare politische Kräfteverhältnisse wie zurzeit in der Stadt Zürich können die Neigung zu langen Amtszeiten ebenfalls fördern, weil eine Wiederwahl sicher scheint. Wer sich vor einer Abwahl fürchten muss und unter starkem Druck steht, tritt tendenziell früher zurück.
Corine Mauch hatte bei ihrer letzten Wiederwahl nicht einmal einen Gegenkandidaten. Die Mehrheiten waren in Zürich aber nicht immer so klar, wie sie heute erscheinen . . .
Das wurde Thomas Wagner 1990 zum Verhängnis. Als er als freisinniger Stadtpräsident nicht wiedergewählt wurde, war er Hohn und Gespött ausgesetzt. Er musste sich damals wohl auch denken: Diesen Wahlkampf hätte ich mir lieber erspart.
Auf kantonaler Ebene gibt es zurzeit eine Diskussion um eine Amtszeitbeschränkung für Regierungsratsmitglieder. Bald will die SP einen entsprechenden Vorstoss im Parlament einreichen. Eine gute Idee?
Es gibt Punkte, die dafür-, und solche, die dagegensprechen.
Was sind die Vorteile?
Ein grosser Vorteil von Beschränkungen ist, dass es zu einer regelmässigen Erneuerung des Gremiums kommt. Neue Leute bringen frischen Wind, Innovation, neue Herangehensweisen. Das tut dem politischen Betrieb gut, es wird mehr regiert und weniger verwaltet. Es verhindert auch, dass gewisse Politikerinnen und Politiker mit vielen Amtsjahren eine zu starke Machtposition erhalten oder – wegen der hohen Belastung – ausbrennen. Zudem hat es Vorteile für die Parteien, welche die Nomination der Kandidaturen besorgen. Sie können die Nachfolge besser planen und jungen Talenten Perspektiven bieten.
Generell: Welche Rolle spielen die Parteien bei solchen Entscheiden?
Eine wesentliche. Sie sind die Gatekeeper und nominieren Mitglieder für die Wahlen. Je nach Partei und Region sind die politischen Kulturen unterschiedlich. Manche tolerieren lange Amtszeiten anstandslos, andere haben geschriebene oder ungeschriebene Regeln, die sie erschweren oder verhindern.
Solche Regeln führen nicht selten zu Zerwürfnissen, legendär sind die Grabenkämpfe in der Zürcher SP vor Nationalratswahlen. Dort braucht es nach zwölf Jahren Amtszeit eine Zweidrittelmehrheit der Delegierten, um es noch einmal auf die Wahlliste zu schaffen. Was halten Sie von solchen selbstauferlegten Beschränkungen?
Gut ist, dass solche parteiinternen Regeln eine gewisse Flexibilität zulassen. Man kann wie im Fall der Zürcher SP höhere Hürden für die Nominationen festlegen. Es heisst dann nicht einfach starr: Nach zwölf Jahren ist Schluss. Aber klar, die innerparteiliche Diskussion kann durch solche Regeln vergiftet werden. Für diese Parteien wäre eine allgemeingültige Regelung, die gesetzlich festgehalten ist, wohl konfliktfreier.
Wo sehen Sie die Nachteile von gesetzlichen Amtszeitbeschränkungen?
Häufige Amtswechsel schwächen die Stabilität in einem Gremium und produzieren Reibungsverluste. Es dauert eine Zeit, bis neue Exekutivmitglieder Tritt fassen. Sie sind kurz nach der Wahl gefordert, oft überfordert, und müssen zuerst aufwendig alle Abläufe kennenlernen.
Ihnen fehlt die Erfahrung.
Ja – und es fehlen ihnen Seilschaften im Kollegium, aber auch in der Verwaltung, zu anderen Exekutiven, zu Verbänden und so weiter. Solche Beziehungen muss man über die Zeit aufbauen und pflegen. Dann politisiert man generell auch mit einem kurzfristigeren Horizont, was im Sinne eines nachhaltigen Regierungshandelns negativ sein kann. Und es kommt nicht selten zu «Reformitis». Wir kennen dies auch aus der Privatwirtschaft: Jeder neue Chef, jede neue Chefin will eigene Akzente setzen – obwohl das nicht immer nötig ist. Es gibt aber auch demokratiepolitische Gründe, die gegen Beschränkungen sprechen.
Nämlich?
Sie beschneiden das passive Wahlrecht und die aktive Wahlfreiheit. Gewisse Personengruppen sind ausgeschlossen, was eine Einschränkung der demokratischen Mitwirkungsmöglichkeit bedeutet.
Ist das ein Grund, weshalb es in der stolzen Schweizer Demokratie kaum Amtszeitbeschränkungen gibt? Nur wenige Kantone wie Graubünden kennen sie.
Das kann mit ein Grund sein. Auch der Milizgedanke könnte eine Rolle spielen. Zudem ist hierzulande vieles nicht formalrechtlich festgelegt, sondern folgt gesellschaftlichen Normen.
Der SP-Kantonsrat Rafael Mörgeli, der die Amtszeitbeschränkung in Zürich einführen will, sagt: «Ein politisches Amt sollte keine Lebensaufgabe sein.» Hat er recht?
Natürlich kann man diese Ansicht vertreten. Ich finde, sie trifft aber eher für Nebenämter zu – zum Beispiel in einem kantonalen Parlament oder in einer kleinen Gemeindeexekutive –, nicht für ein Vollamt wie beim Regierungsrat. Es ist interessant, dass die Aussage in diesem Fall von einem SP-Vertreter kommt. Sonst wehrt sich eher die politische Rechte gegen Personen, welche politische Tätigkeiten als Beruf verstehen. Was mich klar dünkt, ist, dass ein Exekutivamt gerade für jüngere Personen unattraktiver wird, wenn man sich bereits nach acht Jahren nach einem neuen Job umsehen muss. Junge Talente könnten sich deswegen gegen eine Kandidatur entscheiden.
Sie haben nun viele Vor- und Nachteile aufgelistet. Was überwiegt für Sie?
Dazu kann und will ich mich als Wissenschafter nicht äussern. Das überlasse ich gerne der Politik. Ich selbst bin ambivalent. Letztlich geht es um eine Frage der Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte.
Nicht jeder altgediente Politiker ist auch wirklich alt. Corine Mauch beispielsweise ist «erst» 64, Donald Trump 78. Was halten Sie von einer Alterslimite für Exekutivmitglieder?
Da bin ich skeptisch. Ich kenne auch 40-Jährige, die weniger vital sind als 70-Jährige und in Sitzungen regelmässig einnicken. Regelungen wie im Kanton Glarus, wo eine Altersgrenze von 65 Jahren für den Regierungsrat und den Ständerat besteht, halte ich für wenig sinnvoll. Die Amtsfähigkeit lässt sich nicht durch das biologische Alter definieren und ist höchst individuell.