Franziska Bossart investiert für Amazon eine Milliarde in Robotik- und KI-Startups weltweit. Vor allem Schweizer Startups seien im Vergleich zu amerikanischen bisweilen massiv unterbewertet, sagt sie im Interview.
Nach dem Start von Chat-GPT vor zwei Jahren ist in Kalifornien ein Goldrausch 2.0 ausgebrochen. Text, Video, Stimmen – generative KI kann alles und verändert alles. Nun kommt der Wandel in der physischen Welt an: Bahnbrechende Durchbrüche in der Robotik zeichnen sich ab.
Die Goldgräberstimmung hat auch Big Tech erfasst. Microsoft, Google, Apple und Co. wetteifern nicht nur um KI, sondern auch um die spannendsten Startups in der Robotik. Amazon investiert zurzeit die bemerkenswerte Summe von einer Milliarde Dollar in Robotik und KI-Startups. Über die Geldmittel des 2022 lancierten Industrial-Innovation-Fonds waltet inzwischen die Schweizerin Franziska Bossart. Sie ist die einzige europäische Direktorin in der Unternehmensentwicklung des Konzerns mit 1,4 Millionen Mitarbeitern.
Für Amazon sucht Bossart nach neuen Goldadern: Aus der Masse an Startups versucht sie diejenigen herauszufischen, deren Technologie für Amazons Warenlager und Lieferkette strategisch relevant ist, wie sie bei einem Treffen in Amazons Büroräumen in der Innenstadt von San Francisco erklärt.
Frau Bossart, wie verändert der KI-Boom die Robotikbranche?
2024 begann das bisher aufregendste Kapitel überhaupt für Roboter. Denn vor einem Jahr gab es wichtige Forschungsdurchbrüche bei den Grundlagenmodellen: Plötzlich kam es zu echten Fortschritten bei den sogenannten Vision-Language-Action-Models. Diese kombinieren alle bisherigen KI-Errungenschaften bei Text, Bild und Videos. Ich kann nun zu einem Roboter sagen: «Gib mir etwas zu essen!» Er schaut sich in seiner Umgebung um, erkennt, was für Menschen essbar ist, und reicht es mir dank guter Feinmotorik. Seine Entscheidung erklärt er mir in natürlicher Sprache. Hinzu kommt, dass all die Motoren, Sensoren und Kameras in letzter Zeit viel günstiger geworden sind – ein humanoider Roboter kostet nun durchschnittlich 150 000 statt wie im Vorjahr noch 250 000 Dollar. Damit sind wir noch weit von einem Preis entfernt, der diese Roboter für Konsumenten erschwinglich machen würde. Aber beides sind echte Durchbrüche für die Robotik – mit enormen Auswirkungen.
Ist der Preis das Einzige, was Roboter als Helfer im Alltag noch vom Massenmarkt trennt?
Nein, viele Startups vernachlässigen ein Thema, das für uns als Grossfirma absolut zentral ist: die Sicherheit in der Zusammenarbeit. Roboter arbeiten in unseren Warenlagern Seite an Seite mit Menschen. Wir können uns keinen Unfall erlauben. Startups behandeln die Sicherheit aber meist als Nebenaspekt. Dabei ist sie essenziell, um massentauglich zu werden und den Durchbruch zu schaffen.
Wie lange wird es noch dauern, bis wir alle einen universellen Haushaltsroboter haben – der den Müll wegräumt, die Spülmaschine leert und den Kindern nachräumt?
Noch eine ganze Weile. Der Haushalt ist eine extrem komplexe, völlig unstrukturierte Umgebung. Ein Blatt Papier auf dem Tisch können Roboter meist nicht erkennen und es auch nicht aufheben. In Labors entwickeln Startups zwar bereits Roboter mit taktilen Fingerspitzen. Aber das befindet sich alles noch im Forschungsstadium, das Skalieren für den Massenmarkt liegt noch Welten entfernt. In den nächsten zwei, drei Jahren werden wir sicher noch keine universalen Haushaltshilfen haben.
Wie informieren Sie sich, was technologisch möglich ist und was Schaumschlägerei von Firmen?
Der Fonds, den ich bei Amazon leite, ist ja Teil des riesigen Technologiekonzerns. Ich sitze in der Schaltzentrale der Unternehmensentwicklung. Da habe ich Einblicke in alle relevanten Fortschritte und kann mich mit unseren hauseigenen Spezialisten austauschen. Amazon ist ja auch der weltgrösste Anbieter für Cloud-Computing, baut eigene KI-Modelle und hat eine eigene Robotikabteilung. Die Expertise, auf die mein Team zurückgreifen kann, ist enorm.
Üblicherweise investieren Fonds ihre Mittel in den ersten fünf Jahren, Ihr Innovationsfonds hat nun also Halbzeit. Wie viel der einen Milliarde Dollar haben Sie schon ausgegeben?
Dazu äussern wir uns nicht – und das ist aus meiner Sicht auch irrelevant. Die Milliarde Dollar ist ein Signal dafür, dass wir wirklich gross denken. Es ist ein strategischer Fonds, das heisst, nicht die erzielte Rendite ist das Wichtigste, sondern die strategische Relevanz für unser Geschäft. Wir haben uns bisher rund 600 Startups angeschaut, 120 davon intensiv, und dann in etwa 20 investiert.
Was muss ein Startup mitbringen, damit Amazons Interesse geweckt ist?
Uns interessieren insbesondere Technologien für unsere Lagerhäuser, unsere Lieferkette und speziell für die letzte Meile der Zustellung. Generative KI und Robotik spielen da überall eine Schlüsselrolle. Grundsätzlich investieren wir in Startups jeder Entwicklungsstufe und schreiben Checks über jede Höhe – wobei wir fast nie weniger als 2 Millionen Dollar investieren, da rentiert sich der Verwaltungsaufwand nicht.
Wie gross ist der Konkurrenzkampf mit Microsoft, Google, Nvidia und Co. um die besten Startups?
Riesig. Andere Big-Tech-Firmen sind bisweilen an denselben Firmen interessiert wie wir. In letzter Zeit haben mehrere Robotik-Startups auf einen Schlag Hunderte Millionen Dollar aufgenommen bei einer Bewertung von 2 oder 3 Milliarden Dollar. Finanzierungsrunden in dieser Grössenordnung gab es in der Robotik vorher nicht. Was Amazon aber von anderen Tech-Konzernen unterscheidet, ist, dass wir jeden Tag Hunderte Millionen von Objekten bearbeiten. Wir sind die grösste denkbare Testumgebung für neuartige Roboter. Jedes Startup muss seine Produkte in der realen Welt testen, da haben wir einen enormen Vorteil.
Investiert Amazon nur in Startups in den USA?
Als ich den Fonds vor gut einem Jahr übernommen habe, war mir ganz wichtig, dass wir nach Europa expandieren. Wir haben gerade in zwei Schweizer Startups investiert – eines von der Fachhochschule Winterthur, das andere von der ETH. Insbesondere in den Bereichen Deep Tech und Industrial Tech entwickelt Europa tolle Technologien, und speziell Zürich ist ein international anerkannter Hub für Robotik und KI. Gerade wenn es um die Finanzierung der Hochschulen geht, sollten wir in der Schweiz uns das vor Augen führen: Wir haben da eine Perle, die sich messen kann mit Stanford, Berkeley, dem MIT.
Das Silicon Valley ist also gar nicht mehr so einzigartig, wie man immer sagt?
Doch, das Ökosystem hier ist nach wie vor nicht vergleichbar mit irgendeinem anderen Ort. Eine gewisse Zeit dachte ich, China könnte dem nahekommen, aber dann hat die Regierung dort begonnen, die Tech-Szene zu zerschlagen. Gerade jetzt, wo Roboter und KI immer näher zusammenrücken, ist die Bay Area von San Francisco der Hub schlechthin. In Stanford und Berkeley forschen sehr prominente Professoren, vor Ort sitzen wichtige Industriepartner, Googles Forschungslabor Deep Mind etwa hat hier seinen Standort für praktische Anwendungen. Und auch Amazon hat gerade in San Francisco ein eigenes KI-Lab eröffnet, das sich auf solche physischen Anwendungen von generativer KI konzentriert.
Ein solcher Hub könnte sich im Laufe der Zeit ja auch in Europa bilden, oder?
Der grösste Unterschied ist die Denkweise. Dieses visionäre Denken des Silicon Valley, das fehlt den Europäern, es wirkt auf uns oft überheblich. Auch wir Schweizer geben uns zu oft mit kleineren Brötchen zufrieden. Think Big ist eines von Amazons Führungsleitlinien, versehen mit dem Zusatz: Klein zu denken, ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Zur Person
Franziska Bossart
ist gelernte Betriebswirtin und Expertin für Robotik und generative KI. Bevor sie 2023 zu Amazon kam, arbeitete sie fast 18 Jahre in verschiedenen Führungspositionen für den Automatisierungskonzern ABB. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt die 47-Jährige in Mountain View, im Herzen des Silicon Valley, und geht in ihrer Freizeit gerne schwimmen und wandern.
Gross zu denken, ist im Silicon Valley allerdings auch einfach, weil es viel mehr Geld für die Startup-Förderung gibt.
Absolut, und das ist ein grosses Problem für Europa. Dass Startups auf einen Schlag mehrere hundert Millionen Dollar an Investorengeld aufnehmen, geschieht in Europa viel seltener als in den USA. Insbesondere in späteren Wachstumsstadien von Startups fehlt es an Kapital. In dem Moment holt man häufig amerikanische Investoren dazu. Aber die verlangen dann manchmal auch, den Firmensitz in die USA zu verlagern und dass der Börsengang dort erfolgt. Wenn man mehr Wertschöpfung in Europa halten will, muss man Wachstumsfirmen das notwendige Kapital bereitstellen. Das sollte Europa – und insbesondere die Pensionskassen als wichtige potenzielle Investoren – zum Nachdenken bringen.
Sind europäische Startups für Sie als Investorin also ein Schnäppchen?
Tatsächlich gibt es Arbitragemöglichkeiten bei der Bewertung. In den USA kann die gleiche Technologie bei einem Startup zehnmal so viel kosten wie in Europa. Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Europa viel Potenzial für Amazon gibt.
Amazon und andere Internethändler liefern sich in den USA einen knallharten Wettkampf um die schnellste Zustellung. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um noch schneller zu werden?
Grundsätzlich dreht sich alles um Autonomie, also beispielsweise selbstfahrende Autos. Insbesondere die letzten hundert Meter sind einer der komplexesten Bereiche in der ganzen Logistik und auch der teuerste: Ein Paket aus dem Minivan zum Kunden an die Tür zu bringen, womöglich über Treppenstufen und verschiedene Bodenbeläge, es auszuhändigen oder an einem sicheren Ort zu hinterlegen – das ist ein sehr komplexes und sehr wichtiges Thema für uns. Ist ein humanoider Roboter dafür die richtige Lösung? Oder ein Vierfüsser? Oder eine Kombination? Bei der Zustellung von Arzneimitteln interessieren wir uns hier in den USA sehr für Drohnen. Unser Ziel ist es, einem Kunden in 60 Minuten seine Medikamente vor die Haustür zu liefern, damit er nicht in der Apotheke in der Schlange stehen muss. Tests dazu laufen bereits.
Als Schweizerin im Management eines Big-Tech-Konzerns – was hat Sie da am meisten überrascht?
Wie Amerika-zentriert die grossen amerikanischen Konzerne sind. Auf meiner Hierarchiestufe oder darüber bin ich die Einzige bei Amazon, deren Muttersprache nicht Englisch und die nicht Amerikanerin ist. Die USA sind schlichtweg ein riesiger Markt, und dort sucht man traditionell zuerst nach Startups. Nach Japan und Korea schauen wir wenig, obwohl diese Länder bei Konsumenten- und Industrierobotern führend sind.
Amazon ist für seine Führungsprinzipien legendär, die Jeff Bezos einst festgelegt hat. Welchen Ansatz finden Sie bemerkenswert?
Die Debattenkultur. Wenn man etwas bei Amazon vorantreiben will, beruft man kein Meeting ein und macht keine Präsentation, sondern schreibt einen Sechsseiter. Objektiv, faktenorientiert, argumentativ stark beleuchtet man darin die Vor- und Nachteile. Am Anfang eines Meetings liest jeder für sich diese Zusammenfassung, zwanzig Minuten sitzen wir alle schweigend nebeneinander. Dann diskutiert man und trifft Entscheide, basierend auf diesem Dokument. Es ist eine verschriftliche Debatte als Instrument zur Meinungsbildung, einfach wunderbar. Diese Debattenkultur erinnert mich sehr an unser Abstimmungsbüchlein in der Schweiz.