Am 8. März ist der Weltfrauentag. Wir empfehlen Bücher, die aufrütteln, berühren und Frauen stärken – zehn Begleiter durchs Leben.
Der Feminismus hat Frauen in den westlichen Demokratien viele Freiheiten gebracht. Aber viele Fragen der Gleichberechtigung sind auch im Westen noch unbeantwortet – von den autokratischen Ländern und religiös fanatisierten Gesellschaften der Welt ganz zu schweigen. Die Emanzipation ist ein unabgeschlossenes Projekt. Und Lesen treibt die Emanzipation voran. Lesen, vor allem das Lesen von Literatur, ist eine überwiegend weibliche Beschäftigung – das sagt die Leseforschung, das weiss der Buchmarkt.
«Gebt uns Bücher, gebt uns Flügel» – so lautete einmal ein Werbespruch auf Einkaufstüten, die in deutschsprachigen Buchläden verteilt wurden. Was für ein Satz. Heute empfehlen NZZ-Autorinnen zehn Bücher, die sie geprägt haben.
Beatrice Achterberg · Die Kostüme aus der Hulu-Serie «The Handmaid’s Tale» sind ikonografisch geworden: rote Kleider, lang und verhüllend, weisse Hauben, die das Gesicht verdecken. Das ist die Uniform, die gebärfähige Frauen in Margaret Atwoods dystopischem Roman «Der Report der Magd» tragen müssen. Mittlerweile ist es auch die Kleidung, die Frauen in den USA, in Irland oder in Argentinien bei Protesten anlegen, wenn es um die Einschränkung von Frauenrechten geht.
Atwoods 1985 erschienener Roman spielt in einem Amerika der unbestimmten, aber näheren Zukunft. In der christlich-fundamentalistischen Republik Gilead haben ausschliesslich Männer das Sagen. Weil durch Kriege und Umweltkatastrophen viele Menschen steril geworden sind, werden die fruchtbaren Frauen unter Berufung auf die Bibel Funktionärs-Familien zugeteilt. Die «Mägde» werden dort im wahrsten Sinne des Wortes als Gebärmaschinen eingesetzt. Unfruchtbare «Unfrauen» der unteren Klassen sind dazu verdammt, Zwangsarbeit in Kolonien zu leisten. Gilead ist die dystopische Fortschreibung frauenfeindlicher Tendenzen, die die kanadische Autorin vor etwa fünfzig Jahren wahrnahm. Betrachtet man heute die politische Situation in den USA, wirken sie erschreckend aktuell.
«Schon verloren wir den Geschmack an der Freiheit, schon empfanden wir die Wände um uns herum als Schutz», sagt die Protagonistin des feministischen Klassikers, deren echten Namen der Leser nie erfährt. Atwoods eindringliche Mahnung an zukünftige Generationen lautet: Für Frauen hängen Freiheitsrechte stets am seidenen Faden. Er ist das Erste, was bei einem politischen Rollback reisst.
Margaret Atwood: Der Report der Magd. Aus dem Englischen von Helga Pfetsch. Piper-Taschenbuch, München 2020. 416 S., Fr. 18.90.
Judith Blage · Gretchen ist beileibe kein It-Girl im heutigen Sinne. Sprössling einer perfekten bürgerlichen Familie ist sie noch weniger: Die 14-Jährige wohnt in einem Wiener Gemeindebau. Sie hasst Sport. Ihre Eltern haben Eheprobleme, und zu allem Überfluss hat Gretchen auch noch einige Kilo zu viel auf den Rippen: «Wegen ihrem Busen lief Gretchen nicht gern. Der wackelte und schwabbelte auf eine Weise, die Gretchen unangenehm war. Das heisst: Sie spürte ihn. Und ein Körper soll, fand Gretchen, so sein, dass man ihn gar nicht spürt.»
Wie die österreichische Jugendschriftstellerin Christine Nöstlinger über nicht perfekte Körper schrieb, ist besonders aus heutiger Sicht beeindruckend: nämlich ehrlich, konkret, völlig frei von Ängsten und Komplexen, aber immer warmherzig.
Nöstlinger verpackte keine Pädagogikpillen in nette Geschichten, sie begegnete Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe. Denn, wie sie einmal kurz vor ihrem Tod im Jahr 2018 sagte: «Kinder sind auch Menschen.» Und normalen Menschen serviert man eben keine puderrosafarbene Zuckerwelt, in der Erwachsene immer recht haben und alle Leute lieb sind. In «Gretchen Sackmeier», so wie in allen anderen Büchern von Nöstlinger, haben Erwachsene Brüche, machen Fehler, verbreiten manchmal dumme Ansichten. Kinder übrigens auch. Gretchen muss lernen, Autoritäten zu misstrauen, ihre eigene Meinung zu vertreten – und dass man auf hübsche Männer pfeifen kann, wenn sie einem blöd kommen. Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, Journalistin zu werden, wenn man in der Kindheit Christine Nöstlinger gelesen hat – sie spricht Dinge so aus, wie sie wirklich sind.
Christine Nöstlinger: Gretchen Sackmeier. Eine Familiengeschichte. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2021.
Gioia da Silva · In Shaker Heights, einer ruhigen, überschaubaren Vorstadt in Ohio, ist alles genau geregelt. Die Häuser müssen in einer bestimmten Farbe gestrichen, der Rasen in den Vorgärten muss auf eine bestimmte Länge gemäht werden. Abfallcontainer darf man keinesfalls schon am Donnerstagabend zur Strasse stellen, weil die Müllabfuhr bekanntlich immer erst am Freitagmorgen kommt.
Niemand fühlt sich in dieser Berechenbarkeit besser aufgehoben als Elena Richardson, eine wohlhabende Journalistin, die in zweiter Generation mit ihrem Ehemann und ihren vier Kindern in diesem Quartier lebt. Doch dann zieht Mia, eine alleinerziehende Künstlerin, mit ihrer jugendlichen Tochter Pearl in das zweite Haus der Richardsons. Pearl freundet sich mit Elenas Kindern an, später beginnt Mia bei den Richardsons zu putzen. Mit ihrer subversiven Art stellt Mia die Routine der Familie auf den Kopf. Das stört Elena zunehmend.
Als sie versucht, hinter deren Rücken Mias Vergangenheit zu untersuchen, findet sie zwar Antworten, aber zu einem unerwartet hohen Preis. «Kleine Feuer überall» thematisiert Solidarität und Verrat zwischen Frauen, die Macht der Mutterliebe, die Rebellion von Kindern gegen ihre Eltern – und die Gefahr, dem Glauben zu erliegen, man sei vor Katastrophen geschützt, solange man sich nur an die Regeln halte. Ein Buch, das Frauen mutig macht, ihren eigenen Weg zu gehen, auch wenn der unüblich scheint. Und ein Buch, das man innerlich noch Tage nach dem Fertiglesen mit sich herumträgt, weil man das Gefühl hat, man habe eine Freundin dabei.
Celeste Ng: Kleine Feuer überall. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2018. 384 S., Fr. 15.90.
Susanne Gaschke · Als Hochzeitsgeschenk kommt «Lasst endlich die Männer in Ruhe» zu spät. Die österreichischen Sozialwissenschafterinnen Cheryl Benard und Edit Schlaffer warnen in ihrem Buch auf ebenso amüsante wie faktenreiche Weise vor der «romantischen» Liebe, die allzu viele Frauen ins Unglück führe. Wer mit einem Mann eine gute Beziehung haben wolle, müsse nur zwei Prämissen akzeptieren, schreiben sie: «Erstens: Man kann einen Mann nicht verändern. Und zweitens: Man sollte sich um Himmels Willen selbst nicht verändern.»
Die Autorinnen raten dringend dazu, Männer beim Wort zu nehmen: Wenn sie sagten, sie seien bindungsunfähig, könnten nicht treu sein oder hätten sich nicht immer im Griff, dann sei es das Beste, ihnen zu glauben. Stattdessen erfänden Frauen ständig Ausreden für die Männer: «Der Mann hat einfach nicht bemerkt, was seiner Partnerin fehlt», schreiben sie: «Der Mann möchte schrecklich gern netter und emotionaler sein, aber er hat es nicht gelernt.» Oder aber: «Der Mann hat erkannt, dass ihm seine gefühlsmässige Verweigerung ein starkes Macht- und Druckmittel der Frau gegenüber in die Hand gibt.»
Variante eins und zwei könne man getrost ausschliessen: Schliesslich seien die Beziehungsdiskussionen nicht zu zählen und die Literatur zum Thema unendlich. Bleibe Variante drei: Männer nutzen ganz bewusst die Macht der emotionalen Verweigerung (power of denial). Und dabei bestärkten sie sich noch gegenseitig in einer Art ideeller «Gewerkschaft der Gefühllosen». Da gebe es keinen Leistungsdruck, niemand untergrabe «die Solidarität eines derart niedrigen Leistungsniveaus». Nur um winzige Spurenelemente sei der eine Mann netter als der andere. «Frauen dagegen kennen keine Solidarität in Gefühlsdingen und konkurrieren unaufhörlich miteinander um jeden Mann.» Die moderne Botschaft des 35 Jahre alten Buches lautet: Es liegt an uns, unsere Umerziehungsphantasien aufzugeben.
Cheryl Benard, Edit Schlaffer: Lasst endlich die Männer in Ruhe.
Rowohlt-Taschenbuch, Hamburg 2017. 246 S., Fr. 10.–.
Fatina Keilani · Eltern konnten schon immer eine Herausforderung sein. Katharine Grahams Mutter war nicht mütterlich, sondern egozentrisch und flamboyant: Agnes E. Meyer verschaffte Thomas Mann einen Job als Lecturer in Princeton, als dieser aus Nazi-Deutschland floh, und nervte ihn dann mit Einmischungen. Ihre Kinder sahen sie selten. Grahams Vater Eugene Meyer gehörte die «Washington Post» – er hatte das finanziell gescheiterte Blatt 1933 ersteigert.
Als Meyer 1946 den Posten als Chef der Weltbank übernahm, ernannte er aber nicht seine Tochter zur Verlegerin, sondern machte seinen 30-jährigen Schwiegersohn Philip Graham zum Verlagschef. Katharine Graham fand das zunächst gar nicht schlimm. Ihre Rolle sah sie als die einer Hausfrau und Mutter, eingebettet in das politische Leben in Washington. Doch ihre Stunde kam. Philip Graham war zwar brillant, aber auch manisch-depressiv. 1963 brachte er sich um.
Nun traf Katharine Graham eine weitreichende Entscheidung – sie übernahm die Führung der «Washington Post». Unter ihr gelang der «Post» der Scoop mit den «Pentagon Papers», die bewiesen, wie die US-Regierung ihre eigene Bevölkerung über den Beginn des Vietnam-Krieges belogen hatte. Graham stand an der Spitze des Verlags, als der Watergate-Skandal losbrach. In ihrer Autobiografie schildert Graham ihren beeindruckenden Lebensweg von der unterwürfigen Ehefrau eines psychisch kranken Alkoholikers, der sie betrog, bis zur bedeutendsten Verlegerin der Vereinigten Staaten. Leser können aus dem Buch alles Mögliche lernen – über Partnerwahl, Empowerment, das Hinauswachsen über sich selbst und über 40 Jahre amerikanische Geschichte.
Katharine Graham: Die Verlegerin. Aus dem Englischen von Henning Thies. Rowohlt-Taschenbuch, Hamburg 2018. 736 S., Fr. 27.80.
Susann Kreutzmann · Am 14. Oktober 1970 wird im Deutschen Bundestag der Aufstand geprobt: Die Sozialdemokratinnen schicken ihre Kollegin Lenelotte von Bothmer vor, um mit den überkommenen Kleidungsvorschriften des Parlaments aufzuräumen. Als erste Frau im Plenarsaal tritt von Bothmer statt im Rock im Hosenanzug ans Pult. Mit lautstarken Zwischenrufen versuchen männliche Abgeordnete, sie bei ihrer Rede aus dem Konzept zu bringen. Es folgen Beschimpfungen von wütenden Bürgern.
Episoden wie diese zeigen, wie sich deutsche Politikerinnen Stück für Stück aus der parlamentarischen Unsichtbarkeit herausarbeiteten. Torsten Körner setzt in seinem Buch «In der Männer-Republik – Wie Frauen die Politik eroberten» diesen tapferen Abgeordneten ein Denkmal. Viele Frauen seien ihrer Zeit weit voraus gewesen, aber in der politischen Versenkung verschwunden, schreibt Körner. Als Beispiel nennt er die erste Bundesministerin Elisabeth Schwarzhaupt, die 1961 für das Gesundheitsressort vereidigt wurde. Vorangegangen war ihrer Berufung ein Sitzstreik der christlichdemokratischen Parlamentarierinnen vor dem Kabinettssaal.
Einer Revolution glich 1983 der Einzug der Grünen in den Bundestag: Unter ihnen war eine ganze Riege von unangepassten Frauen. Doch auch die Grünen-Frauen mussten sich gegen politische Alphatiere wie Joschka Fischer und Otto Schily behaupten. Sie taten das mit dem sogenannten «Feminat», dem ersten rein weiblichen Fraktionsvorstand. Auch Kolleginnen aus anderen Fraktionen beglückwünschten sie dafür. Schliesslich mussten die weiblichen Abgeordneten oft offenen Sexismus ertragen. Der Mitbegründer der Christlichsozialen Michael Horlacher sagte im Jahr 1950: «Als Einzelne wirkt die Frau wie eine Blume im Parlament, in der Masse wie Unkraut.»
Torsten Körner: In der Männer-Republik. Wie Frauen die Politik eroberten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 361 S., Fr. 32.90.
Eva Mell · Über hundert Frauen einer christlichen Kolonie in Bolivien werden immer wieder betäubt und vergewaltigt. Die Männer glauben den Frauen nicht, dass ihnen Leid angetan wurde. Sie stellen sie als Lügnerinnen dar. Es dauert Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kommt – weil die Täter auf frischer Tat ertappt werden.
Der Roman «Women Talking» der kanadischen Schriftstellerin Miriam Toews beruht auf einer wahren Begebenheit. Das Unrecht in der abgeschotteten Gemeinschaft ist zwischen 2005 und 2009 geschehen. In ihrem Roman imaginiert die Autorin, wie acht der misshandelten Frauen über die schwierigste Entscheidung ihres Lebens sprechen: Sollen sie den Vergewaltigern vergeben, wie das geistliche Oberhaupt es von ihnen fordert? Sollen sie bleiben und für ihre Rechte kämpfen – oder sollen sie gehen?
Laut dem religiösen Anführer kommen die Vergewaltiger und auch die Misshandelten nur in den Himmel, wenn die Frauen den Männern verzeihen. Zwei Tage lang debattieren die Opfer. Sie sammeln Argumente für und gegen die unmögliche Forderung. Und schälen sich dabei Stück für Stück aus der patriarchalen Unterdrückung heraus. Ihnen wird klar: Sie wollen eigenständig denken, statt zu gehorchen, sie wollen über sich und ihren Körper bestimmen. Es ist eine Emanzipation im Schnelldurchlauf.
Miriam Toews hat ein feministisches Manifest geschrieben, das mich auch deshalb inspiriert hat, weil ich diese christliche Gemeinschaft kenne – wenn auch in viel weniger konservativer Ausprägung. Die Frauen in dem Roman sind Mennonitinnen. So wie ich einst.
Miriam Toews: Women Talking. Faber & Faber, London 2019. 240 S., Fr. 16.90.
Birgit Schmid · Es ist ein Satz, der mich begleitet, seit ich ihn als Studentin in Ingeborg Bachmanns Roman «Malina» gelesen habe. Der Satz hat sich verselbständigt, in der kurzen Version geht er so: «Ich höre nicht auf, zu hoffen, einen Satz gehört zu haben, der mich versichert in der Welt.»
Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin in Wien, um die es «geschehen ist», richtet die Worte stumm an Ivan, einen von zwei Männern. Ivan ist ihr Liebhaber, Malina der Lebensgefährte, und von keinem der beiden wird die Ich-Erzählerin den erlösenden Satz hören. Bachmann erzählt in elegisch-ergebenem Ton von der Einsamkeit, die nur der Liebende erfährt, aber auch von einer weiblichen Existenz, die an den beengenden gesellschaftlichen Strukturen Anfang der 1970er Jahre zugrunde geht.
Das Gefährdetsein beschreibt sie mit albtraumhaften Bildern der Vernichtung aus dem «Dritten Reich». Am Schluss verschwindet die Heldin in der Wand: «Es war Mord.» Spätestens in den neunziger Jahren wurde «Malina» zur feministischen Pflichtlektüre in Germanistikseminaren. Es war die Zeit, bevor alles ein soziales Konstrukt wurde, das Gender oder die romantische Liebe – und so hat dieses Buch für mich seine geheimnisvolle Kraft bewahrt.
«Malina» ist keine kämpferische Literatur, sondern Beschwörung, die Ich-Erzählerin kein «Opfer», sondern eine Gläubige. «Ein Tag wird kommen», heisst es in Bachmann-typischem Pathos, das ihr utopisches Denken färbt. Der Trost von «Malina» besteht genau darin, dass die Hoffnung, den einen versichernden Satz zu hören, sich nie erfüllt. So lange kann man hoffen.
Ingeborg Bachmann: Malina. Suhrkamp, Frankfurt 1980. 362 S., Fr. 18.90.
Claudia Schwartz · Die Schriftstellerin Christa Wolf hat immer wieder Frauen ins Zentrum ihrer Bücher gerückt. Ihre aufsehenerregendste weibliche Figur entwarf sie indes mit Kassandra, jener trojanischen Königstochter und Seherin, der niemand glaubt, wenn sie den Untergang Trojas voraussagt. Allein die literarische Entscheidung, diese weibliche Nebenfigur aus Aischylos’ «Orestie» in den Fokus einer eigenen Erzählung zu rücken, ist ein emanzipatorischer Akt weiblicher Autorschaft. Wolf löst Kassandra heraus aus dem Mythos mit den üblichen Helden und männlichen Grosstaten der griechischen Antike, um ihr fast dreitausend Jahre später eine deutlich hörbare Stimme zu verleihen.
Aus Sicht der Ich-Erzählerin Kassandra fällt hier der Blick auf den Trojanischen Krieg. Und natürlich gibt es mehrere thematische Lesarten dieses 1983 erschienenen Buchs: jene eines Kommentars zum Kalten Krieg oder jene der Warnung vor der krisenhaften politisch-ideologischen Verhärtung in der DDR, in der Wolf – zunehmend desillusioniert – lebte. Die feministische Botschaft und Wirkungskraft allerdings reicht nun gerade auch in unsere Zeit hinüber, wenn Kassandras «Schicksal vorformt, was dann, dreitausend Jahre lang, den Frauen geschehen soll: dass sie zum Objekt gemacht werden». Der Krieg in der Ukraine wie auch der Terror der Hamas zeigten in ihren ersten Stunden und Tagen einmal mehr, wie sehr diese Wahrheit für die Frauen gilt, wann immer Krieg herrscht.
Dagegen immer wieder neu (auch: verzweifelt) Widerstand zu leisten, dafür steht Wolfs Kassandra. In seiner thematischen Bedingungslosigkeit ist Wolfs atemraubendes, als innerer Monolog strukturiertes Buch auch ein Zeugnis eines Feminismus, der noch existenzielle Fragen unter Entbehrungen und Verlust von Reputation verhandelte. «Mit dieser Erzählung gehe ich in den Tod», heisst es gleich zu Beginn dieses von sprachgewaltigen Sätzen durchdrungenen Buches. Kassandra ist als Königstochter privilegierte Komplizin der Macht, aber in einen gesellschaftlichen Rahmen gezwängt. Sie könnte ihrem Schicksal, das sie voraussieht, entkommen in der Beziehung zu Aineias. Aber sie wählt die Unabhängigkeit: Als ihrer Prophezeiung von der Katastrophe niemand glaubt, hält sie an ihrer Überzeugung fest bis in den Tod. Den «Gewalttaten» der wechselnden Machthaber kann sie sich nicht entziehen: So schaut Kassandra am Ende schweigend zu, wie der Krieg seine Leute «formt» und «zerrüttet». Es ist eine weibliche «Schmerzprobe» mit bitterer Bilanz, Kassandra wird mundtot gemacht und hingerichtet.
Christa Wolf: Kassandra. Suhrkamp, Berlin 2008. 178 S., Fr. 11.90.
Esther Widmann · Ein Kind, getötet von einer Granate, während es an der Hand einer Frau über einen Platz in Madrid geht. Von Napalm verbrannte Bauern in Vietnam. Die nackten Leichen, auf einen Haufen geworfen, und daneben ihre Kleider, ordentlich zusammengelegt, im Konzentrationslager Dachau, ein paar Tage nach der Befreiung.
Martha Gellhorn wurde 1937 nur zufällig zur Kriegsreporterin – und folgte für die nächsten 60 Jahre allen grossen Konflikten auf der Welt. Das Grauen, das sie gesehen hat, böte genug Material, um jede Nacht einen anderen Albtraum davon zu träumen. Sie beschreibt es schonungslos, aber nie reisserisch, nie angeberisch, sondern lakonisch. Man vergisst das nicht mehr, und man kann nur annehmen, dass sie diese Dinge auch nicht mehr vergessen konnte.
Sie hasste den Krieg, das schreibt sie mehrmals in ihrer Sammlung von Kriegsreportagen und den nachträglich verfassten einordnenden Texten. Obwohl sie sich ständig in gefährliche Situationen zu bringen schien – sie ging mit den Alliierten beim D-Day in der Normandie an Land, flog mit einem Nachtjäger durch deutsches Flak-Feuer –, kam sie zumindest äusserlich stets ohne Schäden zurück. Sie bewegte sich in dieser fast ausschliesslich von Männern bevölkerten Welt der Gewalt nicht nur mit völliger Selbstverständlichkeit, sondern auch mit einer Furchtlosigkeit, die man sich selbst wünschen würde. Und es sind gerade die Szenen, in denen man sie für ihre Lässigkeit bewundert – die Lust, im Meer zu baden, ist grösser als die Angst vor dem verminten Weg –, in denen Gellhorn besser als andere Reporter zeigt, was Krieg ist: absurd.
Martha Gellhorn: Das Gesicht des Krieges. Reportagen 1937–1987. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Dörlemann-Verlag, Zürich 2012. 576 S., Fr. 39.90.