David Diehl via Edition Patrick Frey
Das bekannteste Maradona-Bild stammt von einem Zürcher Maler – nur weiss das fast niemand. Wie das Bild einer Ikone selbst ikonisch wurde.
Sein Maradona-Bild hat sich verselbständigt, und kaum einer kennt den Urheber. Das realisiert David Diehl im November 2021, ein Jahr nach dem Tod der Ikone Diego Armando Maradona.
Damals erhält der Zürcher Künstler Besuch von einem Freund. Der sieht in Diehls Wohnung die Porträts der Liverpool-Fussballer Mo Salah und Roberto Firmino und sagt zu seinem Gastgeber: «Die von dir gemalten Bilder sehen aus wie dieses Maradona-Bild, das in Neapel an jeder Strassenecke hängt.» Als Diehl entgegnet, er selbst habe jenes Bild von Maradona gemalt, schaut ihn der Freund bloss ungläubig an.
So ist das mit guten Bildern, sie sind wie Ikonen: Woher sie gekommen sind, weiss niemand so genau. Doch sie setzen sich fest, prägen sich ein. Erscheinen, als ob sie immer schon da gewesen wären: göttlich, nicht von Menschenhand gemacht. So war das mit dem Fussballer Maradona, als er 1984 unvermittelt in Neapel auftauchte und innert fünf Jahren von einer ganzen Stadt zum Heiligen verklärt wurde. Und so war das mit Diehls Maradona-Bild, das im Centro Storico von Neapel ab 2020 plötzlich an fast jeder Hauswand prangte. Heute sind beide nicht mehr wegzudenken aus der Stadt am Vesuv: die Ikone Maradona und das ikonisch gewordene Bild der Ikone.
Diehl profitiert vom Boom der Fussball-Illustration
Das besagte Bildnis von Maradona ziert das Cover des Buches «Icons». Wie ein Heiligenbild in einer Handbibel klebt es auf dem in Leinen gebundenen Bändchen, das im Herbst in der Edition Patrick Frey erschienen ist. Der bibliophil gestaltete Kunstband versammelt 42 der 78 Fussballer-Porträts mit Heiligenschein, die David Diehl seit 2013 in seiner Ikonenserie gemalt hat.
Die Idee, die christliche Ikonenmalerei mit einem neuen Inhalt zu kombinieren, kommt Diehl 2013, als er in den Besitz von Jahrbüchern des italienischen Calcio aus den 1970er Jahren gelangt. Der 48-Jährige sagt dazu: «Mich interessierte die Ästhetik der Bilder in diesen Bänden. Der Blick der abgebildeten Fussballer wirkte stoisch, sie schauten in einer Mischung aus Stolz, Selbstbewusstsein, Konzentration und Erhabenheit.» Diehl transferiert die Abbildungen auf Holzplatten, überzieht sie mit Wachs und stellt die Bilder in einem Zürcher Plattenladen aus. Bald sind sämtliche Werke der Serie verkauft.
Nach dieser Ausstellung wird Mämä Sykora, der Chefredaktor des Schweizer Fussballmagazins «Zwölf», auf Diehls Werke aufmerksam und meldet sich beim Künstler. Der stellt gerade das erste Bild seiner neuen Serie fertig: Rolf Osterwalder, den Captain der Aarauer Cup-Sieger von 1985, gemalt in der Tradition der Ikonenmalerei, in Öl, auf Holz und mit einer Aura aus Blattgold. Das gefällt Sykora so gut, dass er Diehl vorschlägt, in der nächsten «Zwölf»-Ausgabe eine Annonce zu schalten. Dort steht dann: «Diehl erklärt sich bereit, eure Lieblinge in ähnlichem Stil zu verewigen.» So kann der Künstler weitere «Heiligenbilder» malen – auf Bestellung, wie einst die Ikonenmaler.
Den ersten Auftrag erhält Diehl von einem FCZ-Fan, er wünscht sich Iulian Filipescu, den Last-Minute-Meistermacher von 2006. Wenig später gibt das «Zwölf» den Brasilianer Sócrates in Auftrag, er ist das Titelbild für die Ausgabe zur Weltmeisterschaft 2014. In kurzer Folge entstehen nun weitere Fussballer mit Heiligenschein, die meisten bestellt von Aficionados. Diehl sagt: «Welche Bilder ich malte, hing zunächst von den Aufträgen ab. Ich bin auf jeden Wunsch, jedes Detail eingegangen, etwa, welches Trikot aus welchem Jahr und welche Frisur die Spieler auf dem gewünschten Bild tragen sollen.» Erst später fügt er der Ikonenserie selbst gewählte Fussballer hinzu, Andrés Iniesta oder Andrea Pirlo etwa. Maradona, die Zentral-Ikone der Serie, malt Diehl im Jahr 2016 als einzigen Kicker mit Doppel-Halo.
Vor einem Jahrzehnt nimmt die Aufmerksamkeit für seine künstlerische Arbeit rasant zu. Das verdankt Diehl dem Internet. Der Maler gehört damals einem Kollektiv von Fussball-Illustratoren an, die sich gegenseitig unterstützen. Auf einer gemeinsamen Website teilen die Mitglieder Fotos ihrer Werke, Re-Posts in den sozialen Netzwerken vergrössern ihre Reichweite. Als Ronaldinho das Ikonenporträt von sich auf seinem Instagram-Account teilt, liken es 250 000 Personen.
Diego Armando Maradona, Iulian Filipescu, Ronaldinho und Sócrates (im Uhrzeigersinn).
Dank der riesigen Resonanz auf seine Bilder erhält Diehl nun immer öfter Aufträge von grossen Fussballklubs: Für Los Angeles Galaxy malt er die Stars Steven Gerrard, Robbie Keane und Giovani dos Santos. Arsenal will ein Porträt von Olivier Giroud. Und der FC Bayern eines von Ottmar Hitzfeld. Diehl sagt: «Es gab einen Moment, in dem Fussballklubs der Arbeit von Fussball-Illustratoren viel Aufmerksamkeit schenkten. Plötzlich war es cool, dass solche Bilder von Hand gemacht waren und nicht die Ästhetik der Fifa-Computerspiele hatten.»
Diehl profitiert vom Boom der Fussball-Illustration, das Magazin «4-4-2» zählt den Zürcher irgendwann zu den berühmtesten Fussball-Illustratoren der Welt. Diese Anerkennung habe ihn zwar gefreut, sagt Diehl. Doch aus künstlerischer Perspektive seien jene Auftragsarbeiten unbefriedigend gewesen. Ausser L.A. Galaxy bestellt kein Klub ein Bild mit einem Heiligenschein; die Vereine fürchten, die Darstellung könnte die religiösen Gefühle ihrer Fans verletzen. Zudem muss Diehl meistens die Vorgaben von PR-Abteilungen erfüllen, seine Bilder sollen möglichst unkontrovers und glattgebügelt sein.
Fussball als Ersatzreligion
In der Arbeit als Fussball-Illustrator fehlt Diehl, was ihm als Künstler wichtig ist: dass seine Werke Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zulassen. Bei den Bildern der Ikonenserie, die Diehl 2020 abgeschlossen hat, resultiert die Vielschichtigkeit aus dem Verfahren: Indem er Fussballstars des 20. und 21. Jahrhunderts in der Technik der traditionellen Ikonenmalerei abbildet, bringt Diehl zusammen, was scheinbar nicht zusammengehört – und erzeugt so ein Spannungsverhältnis. Der Fussball als Ersatzreligion oder Religionsersatz: So überzeugend wie Diehl hat die quasireligiöse Dimension des modernen Fussballs bisher kein Künstler dargestellt.
Wie Heilige werden Fussballstars verklärt und überhöht. Die realen Konsequenzen dieser Glorifizierung können furchtbar sein. Diehl deutet die Schattenseiten und Abgründe der kultischen Star-Verehrung in den Porträts zweier Fussballer an, deren Darstellung deutlich von den anderen Kickern der Serie abweicht: Auf dem Gesicht und dem Hals von Andrés Escobar zeichnet sich ein dunkler Schatten ab – der Kolumbianer wurde nach seinem Eigentor an der WM 1994 von einem Narco erschossen.
Und unter den Augen des traurig dreinblickenden Mesut Özil meint man Tränen zu erkennen, das Bild erinnert an die weinende Madonna. Nach der WM 2018 fiel Özil beim deutschen Publikum in Ungnade, wegen eines Fotos, das der deutsche Nationalspieler mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aufgenommen hatte. Özil sagte einst: «In den Augen der Fans bin ich ein Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren.»
Andrés Escobar, Mesut Özil, Megan Rapinoe und Andrea Pirlo (im Uhrzeigersinn).
Der «Icons»-Band vereint unterschiedlichste Perspektiven
Diehl sagt, er wolle mit seiner Kunst keine fixen Zuschreibungen vornehmen. «Vielmehr möchte ich mit meinen Bildern einen Raum eröffnen für vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Und tatsächlich fand die Ikonenserie auf vielen unterschiedlichen Ebenen Anklang: in der Fussball-Community, in der Kunstwelt und auch im religiösen Bereich. Das fand ich sehr interessant.»
Eine Vielzahl an Perspektiven vereint auch der sorgfältig komponierte «Icons»-Band. Das Buch entstand in enger Kollaboration mit Personen, die Diehl während der Arbeit an der Ikonenserie kennengelernt hat; es enthält nicht nur dessen Fussballer-Porträts, sondern auch zwei Fotoarbeiten und mehrere Textbeiträge (auf Englisch), in denen aus unterschiedlichen Blickwinkeln über das Verhältnis von Fussball und Religion, Ikonografie und Starkult reflektiert wird.
Der kolumbianische Kunsthistoriker und Fussball-Nerd Andrés Montenegro bestellte bei Diehl die Porträts seiner Landsleute Carlos Valderrama und Andrés Escobar; in seinem Essay beleuchtet er Diehls Ikonenbilder aus kunsthistorischer Perspektive und erinnert an Kolumbiens inferiore WM-Kampagne 1994, die mit Escobars brutaler Ermordung endete.
Mit dem britischen Regisseur Asif Kapadia, dessen Dokumentarfilm «Diego Maradona» 2019 erschien, spricht Diehl über die glorreiche Zeit des Argentiniers in Neapel (mit den beiden Meistertiteln 1987 und 1990) und die Bürde des schwer erträglichen Ruhms. Am Schluss des Gesprächs sagt Kapadia: «Es ist gefährlich, wenn du alles hast und die Menschen dich wie Gott behandeln, du aber kein Gott, sondern sterblich bist.»
Der aus Neapel stammende Fotograf Alessandro Tione dokumentiert in seinem Beitrag die Maradona-Verehrung in seiner Heimatstadt. Tione kontaktierte Diehl, nachdem er in Neapels Strassen immer öfter das Ikonen-Bild von Maradona gesehen hatte und herausfinden wollte, wer der Urheber dieses Werks ist. Mämä Sykora schliesslich hat zu jedem abgebildeten Fussballer eine treffende Vignette verfasst.
David Diehls Ikonenbild von Diego Maradona ist in Neapel allgegenwärtig – erst recht seit dem Tod des Argentiniers im November 2020.
Begegnungen mit dem eigenen Bild
Als Diehl an Ostern 2023 Neapel besucht, steht die SSC Napoli vor dem ersten Scudetto seit 1990, dem ersten seit Maradona, der in der Stadt weiterhin allgegenwärtig ist. Nun sieht Diehl mit eigenen Augen, was ihm bisher nur durch Fotos von Freunden und Bekannten zugetragen worden ist: Seit Maradonas Tod im November 2020 hat sich sein Bild der Ikone in Neapel tausendfach vervielfältigt. Es begegnet Diehl überall, in allen möglichen Formen reproduziert: als Malerei an Hauswänden, als Bild auf Fahnen, als Aufkleber in Kiosken. Und als Tattoo auf dem Oberkörper eines Napoli-Ultras.
Aus urheberrechtlicher Sicht sei das durchaus eine bemerkenswerte Entwicklung, sagt Diehl. Doch in der anarchischen Vervielfältigung seines Maradona-Bildes erkennt er einen Aspekt des Ikonischen selbst: Ikonen sind plötzlich da, sie stehen nicht in der Macht einzelner Menschen, ihr Mythos verbreitet sich scheinbar von selbst.
Was Maradona einst selbst erlebt hat, ist 35 Jahre später auch mit dem Maradona-Bild von David Diehl passiert: In Neapel ist es zur Ikone geworden.
Icons. A Directory of Canonisations around the Turn of the Millennium. Edition Patrick Frey. Zürich, 2024.