Abrechnung eines ewigen Kritikers.
Alain Pichard kommt gerade aus dem Klassenzimmer, als er das Telefon abnimmt. «Es ist ein kompletter Unsinn», seufzt er in den Hörer, «wirklich ein Unsinn.»
Pichard, 69, der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («Sonntags-Zeitung»), hat gerade den Französischunterricht in einer dritten Klasse beendet. An einer Brennpunktschule in Pieterlen, nahe bei Biel. Als Notnagel, sagt er selbst. Eine Klasse, 28 Schüler, von denen 80 Prozent daheim kein Deutsch sprechen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Nicht aufgrund der Schüler, «die sind die Opfer dieser Farce», sagt Pichard, viele von ihnen könnten noch nicht einmal richtig Deutsch – «wie sollen sie dann Französisch lernen? Und mit diesen Lehrmitteln?» Nein, für Pichard bestätigt sich hier dieser «monumentale Irrtum – eine Vollkatastrophe».
Jetzt könnte sich aber etwas ändern, das Frühfranzösisch gerät politisch unter Druck. In Appenzell Ausserrhoden ist der Ausstieg beschlossene Sache. Weitere Kantone könnten folgen. Thurgau, Schwyz, Bern, Aargau, Luzern, St. Gallen. Späte Genugtuung verspürt Pichard aber nicht. Er, der seit 46 Jahren in den Klassenzimmern dieses Landes wirkt. Und einfach nicht aufhört, weil er es kann, weil es ihm immer noch Spass macht, weil es ihn braucht. Bereits vor zwei Jahren sagte er, dass es nun genug sei («auch wenn mir das niemand glaubt»). Er musste selbst lachen. Er hat es sich ja selbst nicht geglaubt. Weil ihn das Lehrersein nicht loslässt.
Und vielleicht noch mehr die Entwicklungen in der Schule, die Reformen, der Lehrplan 21 – und eben: dieses Frühfranzösisch. Pichard ruft ins Telefon: «Das war die unsinnigste Reform aller Zeiten. Schreiben Sie das. In Grossbuchstaben.»
«Hassfach»
Das sagt Pichard nicht aus einer Laune heraus. Seine Verärgerung kommt von tief drinnen, aber er begründet sie nicht nur mit seiner Erfahrung und seinen Kenntnissen über Spracherwerb, sondern auch mit der Studienlage. Pichard war schon seit Beginn einer von ganz wenigen Lehrern, die sich gegen die Einführung des Frühfranzösisch ausgesprochen haben. Er begrüsste den damaligen Modus, bei dem vor der Mittelstufe keine Fremdsprachen unterrichtet wurden. Auch medial, was Pädagogen nur sehr ungern tun, weil sie oft von den Politikern dafür getadelt oder sogar abgestraft werden.
Dafür wurde er immer wieder stark beschimpft. Der Vorwurf: Er wolle das Französisch aus der Schule verbannen. Pichard sagt: «Im Gegenteil, ich will das Französisch nicht schwächen, sondern stärken. Ich bin überzeugter Französischlehrer.» Es seien die Befürworter des Frühfranzösisch, die dafür gesorgt hätten, dass die Schüler immer schlechter würden, eine Landessprache zum «Hassfach» geworden sei.
Klar ist: Schon vor der Einführung in der Schweiz haben Studien aus Deutschland im Jahr 2005 ergeben, dass den Schülern nicht geholfen ist, wenn sie so früh mit einer Fremdsprache in Kontakt kommen. Sei es Französisch oder Englisch. Pichard sagt: «Man blendete alles aus, was dagegen sprach. Nie mehr darf eine unheilige Allianz aus Verwaltung, Politik und Wissenschaft einer ganzen Generation von Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrkräften eine solche Reform aufzwingen. Und die pädagogischen Hochschulen und der Lehrerverband sind nachgejoggelt. Unfassbar.»
Bis heute halten diese Kreise an der Sinnhaftigkeit des Frühfranzösisch fest. Obschon die Reform Hunderte Millionen Franken gekostet haben dürfte und nichts gebracht hat. «Riesige Investitionen und keine Rendite» – deshalb halte man daran fest, sagt Pichard, niemand wolle (teure) Fehler zugeben. Man mache mit diesem «Irrsinn» weiter und glaube immer noch, man könne den Kindern mit drei Lektionen pro Woche via «Sprachbad» das Französisch einfliessen lassen. Unterrichtet von Unterstufenlehrern, die die Sprache oft ungenügend beherrschten. «Heraus kommt ein Küchenrezept-Französisch.»
Pichard lacht. Es hilft nur Galgenhumor. Und es klingt auch ein wenig nach Verzweiflung.
«Dann stirbt Franzi wirklich»
Heute sind die Französischkenntnisse schlechter denn je. Nur 10 Prozent der Unterstufenschüler erreichen beim Sprechen das Grundniveau, also die niedrigste Stufe. Das zeigen Studien schonungslos auf. Pichard sagt: «Das verzeihe ich den Reformeiferern nie.» Sie hätten eine Landessprache und «eine wunderbare Sprache mit dieser verkorksten Reform an die Wand gefahren». Vielleicht für immer. Immerhin werde er nicht mehr beschimpft. Aber wohl eher darum, vermutet er, weil er nun auch Politiker sei. Pichard sitzt für die GLP im Berner Kantonsparlament. «Da hat man offenbar eine gewisse Aura.» Ein schwacher Trost.
Aber ist denn gar nichts mehr zu retten? Pichard ist skeptisch. Es brauche eine Kehrtwende, aber dazu fehle der Mut. Er glaube erst an eine «Wende zum Guten», wenn Französisch frühestens ab der Mittelstufe unterrichtet werde. Derzeit, sagt Pichard desillusioniert, befürchte er eher, dass sich – wie in der Ostschweiz – das ohnehin schon dominierende Englisch vollends durchsetze. «Dann stirbt Franzi wirklich.» Es wäre eine Tragödie.
Darum fordert er ein sofortiges Umdenken, einen Marschhalt. Mit der Streichung von Frühfranzösisch könnten zeitliche und finanzielle Ressourcen freigemacht werden, die in Zeiten des Lehrermangels etwas Luft verschafften. «Es ist besser, etwas gar nicht zu unterrichten, als es schlecht zu tun.»
Alain Pichard wird auch diese Woche seine Drittklässler wieder in Französisch unterrichten. Lieder singen, Dialoge lernen, den Markt in Biel besuchen. «Bringen wird es diesen jungen Knirpsen wohl wenig. Sie müssten jetzt vorab einmal gründlich Deutsch lernen.» Aber Pichard ist immer noch da. Jeder «Reformruine» zum Trotz.