Stadel soll alle radioaktiven Abfälle der Schweiz aufnehmen. Jetzt gibt es Diskussionen um Geld. Und eine leise Hoffnung, dass eine neue Technologie das Lager doch noch verhindern könnte.
Von Stadel im Zürcher Unterland wird in 200 000 Jahren nichts mehr übrig sein. Vielleicht überzieht dann ein mächtiger Gletscher das Gebiet. Oder eine Wüste. Gut möglich, dass es dann nicht einmal mehr Menschen gibt.
Doch mehrere hundert Meter tief im Untergrund wird eine letzte Hinterlassenschaft einer längst vergangenen Zivilisation die Jahrtausende überdauert haben: die Überreste von radioaktiven Abfällen aus den Schweizer Kernkraftwerken.
So jedenfalls stellt die Nagra sich das vor. Das ist die Gesellschaft, die in der Schweiz für die Entsorgung des Atommülls zuständig ist. Sie hat im November bei den Schweizer Behörden die Rahmenbewilligungsgesuche für ein Tiefenlager bei Stadel sowie für eine Verpackungsanlage für die Brennelemente in Würenlingen im Kanton Aargau eingereicht.
Geht es nach dem Zeitplan der Nagra, soll das Lager ab etwa 2045 gebaut werden, fünf Jahre später soll es in Betrieb gehen und etwa um das Jahr 2125 verschlossen werden. Nach 200 000 Jahren sind die Überbleibsel der Brennstäbe aus den Kernkraftwerken so weit abgeklungen, dass sie nicht mehr stärker strahlen als Uranerz. Die schwach- und mittelaktiven Abfälle werden nach etwa 30 000 Jahren nicht mehr gefährlich sein.
«Dieses kolossale Projekt», sagt Dieter Schaltegger, «ist für Stadel eine riesige Überforderung.»
Schaltegger ist kein Geologe und auch kein Nuklearphysiker. Der 62-Jährige SVP-Politiker ist Gemeindepräsident von Stadel, und das ist normalerweise ein 20-Prozent-Pensum.
Doch seit sein Dorf von der Nagra ausgewählt wurde, sind es eher 50 Prozent. Dies zusätzlich zu seinem Vollzeitjob als Geschäftsführer einer Handelsfirma für Dentalprodukte.
Stadel hatte nichts dazu zu sagen, ob die radioaktiven Abfälle der ganzen Schweiz in die Gemeinde kommen sollen. Ein kommunales Vetorecht ist im Schweizer Entsorgungsplan nicht vorgesehen.
Die Nagra sagt, dass für sie einzig der Untergrund entscheidend sei. Sie würde die Abfälle auch mitten in der Stadt Zürich vergraben, wenn die Geologie dort am besten geeignet wäre.
«Die Geologie hat gesprochen»
Schaltegger ist ein Kommunalpolitiker, wie ihn sich viele Gemeinden wünschen. Seit 2010 ist er in der Gemeinderegierung, seit 2014 ist er Präsident. Solche langen Amtszeiten sind selten.
Dass ausgerechnet seine Gemeinde zur Kapitale des Atommülls werden soll, hätte er sich nicht träumen lassen.
Die Nagra hatte das Gebiet Nördlich Lägern, in dem sich auch Stadel befindet, zwar im Rahmen ihrer Standortsuche eingehend geprüft. Doch 2015 kam sie zu dem Schluss, dass andere Gegenden besser geeignet sind. Stadel schien aus dem Schneider, und zwar wegen der Geologie.
Die Nagra will die Abfälle in einer Schicht aus Opalinuston einbetten. Dieser ist ein 175 Millionen Jahre altes Überbleibsel eines Flachmeeres. Der Opalinuston ist etwa 110 Meter mächtig, für Wasser undurchlässig, kann radioaktive Stoffe binden und sich selbst abdichten. Das alles macht ihn für die Nagra zum perfekten Wirtsgestein.
Weniger perfekt ist die Lage des Opalinustons in Nördlich Lägern. Er liegt etwa 800 bis 900 Meter tief. So weit unten ein Lager zu erstellen, stellt eine bautechnische Herausforderung dar, welche die Nagra 2015 noch als zu gross erachtete. Sie wollte damals nicht tiefer als 700 Meter gehen. Nördlich Lägern wurde deswegen bei der Standortsuche zwar nicht ganz ausgeschlossen, aber zurückgestellt.
In der Region war man damals über diesen Schritt erleichtert. Sie sah sich durch den Lärm des nahen Flughafens Zürich und durch den Kiesabbau schon genügend belastet. Eine Grube für radioaktive Abfälle samt jahrelanger riesiger Baustelle, das brauchte man nun wirklich nicht auch noch.
Doch nur ein Jahr später folgte die Ernüchterung. Die Aufsichtsbehörden und Kantone kritisierten, dass Nördlich Lägern vorschnell auf die hinteren Plätze verwiesen worden war.
Die Nagra musste über die Bücher, und im September 2022 gab sie bekannt, dass sie ihren eigenen Entscheid revidiert hatte, und zwar gründlich: Nördlich Lägern sei nicht nur geeignet, es sei sogar der beste Standort. «Die Geologie hat gesprochen», sagte damals der CEO der Nagra, Matthias Braun.
Eine vertrauliche Vorabinformation
Dieter Schaltegger kann sich noch genau erinnern, wie das damals war. Die Gemeindepräsidenten von Stadel, Weiach und Glattfelden wurden im Vorfeld nach Zürich eingeladen und dort unter strikter Geheimhaltung vorinformiert.
«Ich nahm den Entscheid mit einer inneren Leere zur Kenntnis», sagt er. «Auf der Rückfahrt nach Stadel schwirrte mir der Kopf. Ich überlegte mir, was ich nun alles an die Hand nehmen musste. Die anderen Gemeinderäte informieren. Und später die Bevölkerung. Und die Medien.»
Schaltegger sagt, er habe damals überhaupt keine Erfahrung gehabt damit, was man sagen müsse und wie man es sagen müsse. Und wie man mit Journalisten umgehen solle.
Im Raum stand kurz, diese Aufgaben extern zu vergeben, ein Mandat nur für das Tiefenlager zu schaffen. Das wurde schnell verworfen, nicht nur aus finanziellen Gründen. «Die Bevölkerung erwartet von uns, dass wir die Fäden in der Hand behalten», sagt Schaltegger. «Das kann man nicht delegieren.»
Die drei am stärksten betroffenen Gemeinden organisierten Informationsveranstaltungen. Ihre Präsidenten besuchten eine Baustelle für ein Lager in Finnland. Die Nagra eröffnete einen temporären Info-Pavillon in Stadel.
Im Dorf wuchs derweil die Erkenntnis, dass das Lager wahrscheinlich kommen würde. Eine Arbeitsgruppe wurde gebildet, sie heisst «Stadel aktiv». Ihr Ziel: wenn ein Tiefenlager, dann bitte fair.
«Wir werden die Kröte wohl schlucken müssen», sagt Schaltegger. «Aber im Gegenzug erwarten wir eine angemessene finanzielle Entschädigung.» Was das in Franken und Rappen bedeuten wird, ist die grosse Frage, die Schaltegger derzeit umtreibt.
«Wir haben den Anspruch, dass man uns ernst nimmt», sagt Schaltegger. «Und wir verlangen, dass unsere finanziellen Forderungen akzeptiert werden, und zwar nicht erst in zwanzig Jahren, sondern jetzt.»
Das gilt nicht nur für Stadel, sondern für mehrere Gemeinden aus den Kantonen Zürich, Aargau und Schaffhausen. Sie liegen im Umkreis des Lagers oder der Verpackungsanlage, und sie haben eine gemeinsame Abgeltungskommission ins Leben gerufen. Schaltegger ist deren Präsident. Bis im Sommer 2027 soll es ein Verhandlungsresultat geben.
Könnte das Tiefenlager wirtschaftlich gesehen sogar eine Chance sein für Stadel? Mehr Jobs, mehr Umsatz in den Dorfbeizen, neue Steuerzahler? Schaltegger ist skeptisch. «Das eine oder andere KMU mag vielleicht einen Auftrag erhalten. Aber die Arbeiter werden in ihren Wohncontainern weitgehend unter sich bleiben.»
Vergraben und vergessen?
Das Lager akzeptieren, die Kröte schlucken, das mögen längst nicht alle in Stadel. Eine, die sich wehrt, ist Wilma Willi. Sie ist Berufsschullehrerin und Kantonsparlamentarierin der Grünen, und sie lebt nur etwa 2500 Meter vom künftigen Lagereingang entfernt.
Willi stellt das Schweizer Entsorgungskonzept, also die Lagerung der radioaktiven Abfälle tief unter der Erde, grundsätzlich infrage. «Vergraben und vergessen, das ist eine Denke aus dem letzten Jahrhundert», sagt sie.
Die Technik entwickle sich schnell. Was man sich vor dreissig Jahren nicht einmal habe vorstellen können, sei heute Standard. «Schauen Sie doch nur, wie stark sich die Mobiltelefone in dieser Zeit verändert haben!», sagt Willi.
Doch bei der Entsorgung von radioaktiven Abfällen, einer der grössten Aufgaben der heutigen Generation, meine man, dass die Konzepte aus den 1970ern noch hundert Jahre später Gültigkeit hätten. «Dabei könnten die Abfälle ein Rohstoff sein», sagt Willi. «Wir sollten sie nicht vergraben.» Ausserdem könne das Lager tiefe Grundwasserströme gefährden.
Die Nagra selbst betont, dass die Abfälle nicht ewig im Untergrund liegen müssen. Sie können zurückgeholt werden, so will es auch das Gesetz. Für Willi ist das aber reine Theorie. «Stellen Sie sich vor, Sie müssten dieses hochradioaktive Zeugs in 50 oder 80 Jahren aus 900 Metern Tiefe ausgraben. Wie soll das gehen?»
Eine weitere Bedenkenträgerin ist Karin Joss. Die ETH-Mathematikerin und Unternehmerin sass mehrere Jahre für die GLP im Zürcher Kantonsrat. Sie sei lange Zeit eine stille Gegnerin der Kernkraft gewesen, sagt sie. Jetzt hat sie eine laute Stimme erhalten: Sie ist Co-Präsidentin des Vereins Loti – (Nördlich) Lägern ohne Tiefenlager. Er zählt etwa 200 bis 300 Mitglieder.
«Sicherheit ist eine Skala von 0 bis 100, und wir setzen den Punkt nicht an die gleiche Stelle wie die Nagra», sagt Joss.
Bereits in der Schule habe sie gelernt, dass jedes Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von grösser als null irgendwann auch eintreffe. «Können wir als Gesellschaft diese Verantwortung wirklich übernehmen? Und zwar auch dann, wenn das Ereignis in 30 000 Jahren eintreten sollte?»
Auch Joss fragt sich, wie die Abfälle zur Not wieder aus dem Lager geschafft werden könnten, falls es Probleme geben sollte. Ihr fehlt der Nachweis, wie das nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich möglich sein soll. «Die Einlagerung dürfte nach aktuellen Schätzungen weit über 20 Milliarden Franken kosten, vielleicht noch viel mehr. Es kann sein, dass die Rückholung fünfzig oder hundertmal so teuer würde. Wer soll das bezahlen?», fragt Joss.
Was also tun? Joss plädiert für mehr Zeit. «Wir müssen weiter forschen. Die Wissenschaft wird bessere Grundlagen und Technologien erschliessen, die ein Vergraben der Abfälle vielleicht überflüssig machen werden.»
Wird das Lager überflüssig?
Die grösste Hoffnung der Lagergegner liegt bei der Transmutation. Der Begriff weckt beinahe religiöse Assoziationen, und tatsächlich geht es um eine Verwandlung, die fast schon wundersam erscheint: Langlebige hochradioaktive Abfälle sollen so bearbeitet werden, dass sie viel weniger lange gefährlich sind – nur noch wenige hundert Jahre, nicht einige hunderttausend.
Neu ist die Idee der Transmutation nicht. Doch es fehlen praktische Erfahrungen. Selbst nach Jahrzehnten der Forschung gibt es nirgendwo auf der Welt eine funktionierende industrielle Grossanlage.
Ausserdem würde das Abfallproblem auch mit der Transmutation nicht gelöst. Die Nagra gibt zu bedenken, dass es in jedem Fall eine Lagerstätte für die schwach- und mittelaktiven Abfälle brauche. Diese können nämlich nicht umgewandelt werden.
Ausserdem müssten für die Transmutation neue Atomreaktoren und eine Wiederaufbereitungsanlage gebaut werden – und das ist in der Schweiz derzeit gar nicht erlaubt.
Die Oberflächenanlage käme fast vor der Haustür von Wilma Willi, der grünen Kantonsrätin aus Stadel, zu stehen. Willi sei nicht in jedem Fall gegen ein Tiefenlager. Aber zuvor müssten alle Bedenken ausgeräumt sein. «Und zwar so, dass es auch für Laien wie mich nachvollziehbar ist, ohne banale Parolen.»
Die Frage wird sein, ob Gegnerinnen wie Wilma Willi und Karin Joss am Schluss mit ihren Bedenken nicht einfach untergehen werden.
Sehr wahrscheinlich wird es über das Tiefenlager eine nationale Volksabstimmung geben. 2031 könnte es so weit sein. Die direkt betroffenen Gemeinden, vielleicht sogar der ganze Kanton Zürich, dürften das Projekt ablehnen.
Der Rest des Landes aber wird wohl noch so froh sein, dem Zürcher Unterland den strahlenden schwarzen Peter zuzuschieben.