Die SBB bauen ihre Bahnhöfe zu Edel-Shoppingcentern aus. Migros und Coop betreiben dort riesige Supermärkte. Die günstige Konkurrenz bewirbt sich zwar, kommt aber nicht zum Zug.
Ein typischer Sonntagnachmittag in einem grösseren Schweizer Bahnhof: Ein Security-Mann schaut zum Rechten, weil das Gedränge vor der Migros schon an der Schiebetür unerträglich ist. Drinnen kommt man nur im Zeitlupentempo vorwärts. Im Coop ein paar Eingänge weiter vorne das gleiche Bild. Manche Regale sind leer, weil das Personal mit dem Auffüllen nicht nachkommt. Vor den Kassen bilden sich so lange Schlangen, dass sie bis zu den Tiefkühlprodukten im hinteren Teil des Ladens reichen.
Eigentlich verbietet das Schweizer Arbeitsgesetz es den Supermärkten, sonntags ihre Tore zu öffnen. Es gibt aber eine gewichtige Ausnahme. In Zentren des öffentlichen Verkehrs – sprich: an Bahnhöfen und Flughäfen – dürfen «Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sonntags für die Bedienung der Kundschaft ohne behördliche Bewilligung» beschäftigt werden.
Diese Sonderregelung wurde geschaffen, damit sich Reisende verpflegen können, wenn sie ausserhalb der gewöhnlichen Öffnungszeiten unterwegs sind. Doch mit dem ursprünglichen Zweck hat die heutige Situation kaum mehr etwas zu tun.
Mittlere und grössere Bahnhöfe sind heute Einkaufszentren, die teilweise Hunderte Millionen Franken an Umsatz generieren. Die SBB haben sie konsequent so gebaut. So wurden in den letzten Jahren Kioskflächen im grossen Stil in kleinformatige Läden, sogenannte Convenience-Stores, umgewandelt (siehe Grafik). Mit jedem Bahnhofumbau wird das Ladenflächenangebot optimiert. Damit haben die SBB das Angebot an Einkaufsmöglichkeiten vervielfacht und die Nachfrage nach Sonntags-Shopping angeheizt.
Die Flächen an den Bahnhöfen sind denn auch heiss begehrt – und nicht selten ein Politikum. Als Valora (u. a. K Kiosk, Avec, Brezelkönig, Press & Books) 2019 von den SBB den Zuschlag für 262 Kiosk- und Convenience-Flächen in der ganzen Schweiz bekam, sorgte das bei den Mitbewerbern nachhaltig für Verstimmung.
Fast schon unterwürfig
Die Sonderstellung der Bahnhöfe macht die SBB zu einem mächtigen Player im Schweizer Detailhandel: Die staatliche ÖV-Betreiberin bestimmt, wer sonntags verkaufen darf und wer nicht. Zum Leidwesen von Firmen, die dort unbedingt Läden eröffnen möchten, es aber einfach nicht schaffen.
Zum Beispiel die Discounter Aldi und Lidl, wie Recherchen zeigen. «Wir bewerben wir uns regelmässig für solche Standorte und unterbreiten jeweils gute, marktgerechte Angebote», schreibt Aldi Suisse. Trotzdem hat Aldi bis jetzt noch nie einen Zuschlag von den SBB für einen permanenten Laden bekommen. Von den 242 Filialen, die Aldi in der Schweiz betreibt, dürfen gerade einmal zwei am Sonntag öffnen: am Bahnhof Biel sowie in Zürich-Stadelhofen, wo die Läden an die Bahnhöfe angrenzen. Vermietet werden diese Flächen aber nicht von den SBB, sondern von Dritten.
Aldi setzt zwar grundsätzlich auf grössere Läden als solche, die an Bahnhöfen üblich sind. Um sonntags öffnen zu dürfen, ist der Discounter aber bereit, sich anzupassen. «Wir möchten unsere Kompetenz auch für kleinere Konzepte im Hochfrequenzbereich ausbauen», schreibt die Medienstelle.
Aldi hofft, dass dies doch noch klappt. Mit den SBB möchte der Discounter es sich ganz offensichtlich nicht verscherzen. So schreibt die Medienstelle schon fast unterwürfig: «Bislang haben wir die Kriterien der SBB nicht erfüllt. Das möchten wir in Zukunft ändern.»
Der Konkurrent Lidl ist einen Schritt weiter, aber nur einen kleinen. Am Bahnhof Bern darf der unterirdische Lidl sonntags öffnen und gehört zur Bahnhofsinfrastruktur. Aber auch da sind nicht die SBB Vermieterin, sondern das Warenhaus Loeb, in dessen Keller sich der Supermarkt befindet.
Auch Lidl prüft jeweils die von den SBB ausgeschriebenen Flächen. Im Gegensatz zu Aldi ist die Supermarktkette aber weniger bereit, vom eigenen Konzept abzuweichen. «An den Bahnhöfen gibt es nur sehr wenige potenzielle Flächen, die unseren Anforderungen entsprechen.»
Ganz anders die Präsenz der Platzhirsche Coop und Migros. An den grossen Bahnhöfen verfügen sie über grossflächige Supermärkte, an den kleineren Stationen sind sie mit Ladenformaten wie Migrolino oder Coop to go zur Stelle. Besonders auffällig ist die Dominanz am Hauptbahnhof Zürich. Dieser gilt mit einem Jahresumsatz von 440 Millionen Franken im Jahr 2022 als eines der grössten Shoppingcenter der Schweiz.
Und er ist fest in der Hand von Migros und Coop. Zusammen haben sie dort 23 Niederlassungen. Neben den diversen klassischen Läden ist etwa die Migros mit dem Bio-Markt Alnatura, den Take-aways Kaimug und Hitzberger oder der Medbase-Praxis vor Ort. Coop wiederum hat neben den beiden Supermärkten und Gastro-Angeboten wie Rice Up, Yoojis oder «Zopf und Zöpfli» ihre Fachformate Import Parfümerie, Interdiscount oder Christ Uhren und Schmuck untergebracht.
SBB-Wohnung für 7400 Franken
Für ihre besten Kunden baut die SBB auch ihre Bahnhöfe nach Mass. Am Bahnhof Basel wurde der sogenannte Westflügel 2021 nach vierjähriger Bauzeit wieder eröffnet. Die Migros konnte dank einem neuen Untergeschoss die Grösse verdoppeln. Als 2018 der umgebaute Bahnhof in Aarau eröffnete, nahm sie sogar einen 700 Quadratmeter grossen Supermarkt neu in Betrieb.
Die SBB haben in den letzten Jahren viel in die Aufwertung ihrer Bahnhöfe investiert. In Zürich wurde Ende des letzten Jahres ein Grossteil des Hauptbahnhofs nach langer Umbauzeit wieder eröffnet. Neu eingezogen sind Edelrestaurants bekannter Spitzengastronomen. Es drängt sich die Frage auf: Sind die Discounter einfach zu wenig chic für die SBB-Bahnhöfe?
Die Bundesbahn antwortet ausweichend. Bei der Gestaltung des Bahnhofangebots stünden die Bedürfnisse der Reisenden und der lokalen Bevölkerung im Zentrum, schreibt ein Sprecher. Flächen würden regelmässig neu ausgeschrieben. Die Discounter seien eingeladen, in den «starken Wettbewerb» einzusteigen.
Mit ihrer Quasi-Monopolstellung für Läden an zentralen Lagen, die sonntags öffnen dürfen, verdienen die SBB enorme Summen. 2022 erwirtschaftete der Staatsbetrieb einen Mietertrag von 657 Millionen Franken. Nicht ausgewiesen wird der Anteil der Einnahmen aus Laden-, Wohn- und Büroflächen. So sind die SBB beispielsweise auch ein bedeutender Anbieter von Mietwohnungen. In Basel ist gerade ein 4,5-Zimmer-Penthouse für 7400 Franken pro Monat ausgeschrieben.
Dass die SBB in einer derart starken Position sind, ist eine Folge des Schweizer Arbeitsgesetzes. Sowohl Aldi wie Lidl kritisieren dieses. Lidl schreibt, dass es zu Marktverzerrungen führe. Gemäss Aldi kommt ein «zunehmender Teil der Gesellschaft nicht mehr dazu, unter der Woche einzukaufen – und holt die Einkäufe am Sonntag nach.»
Der liberale Arbeitsmarktexperte Marco Salvi vom Think-Tank Avenir Suisse sagt: «Sonntagseinkäufe sind heute in der Schweiz grundsätzlich möglich. Die Politik macht das Einkaufen aber künstlich teuer.» Dies, weil Konsumentinnen und Konsumenten am Sonntag einen längeren Weg zum Bahnhof machen müssten und dort die Preise oft höher seien. Im Moment würden vor allem die grossen Grundeigentümer profitieren. «Sprich: vorwiegend die SBB.»
Eines ist klar: Schweizerinnen und Schweizer gehen heute sieben Tage die Woche shoppen. Aber solange sich die Gesetze nicht ändern, stehen sie sich Wochenende für Wochenende an den SBB-Bahnhöfen auf den Füssen.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»