Russland sieht keinen Grund, für einen Frieden in der Ukraine Kompromisse einzugehen. Der frühere Präsident Medwedew verdeutlicht das mit einer maximalistischen «Friedensformel». Das Pamphlet richtet sich auch gegen die Schweiz.
Beim früheren russischen Präsidenten Dmitri Medwedew ist nie ganz klar, für wen er eigentlich spricht: für sich selbst, für den Kreml oder nur als einer, der mit seinen oft beleidigenden Äusserungen die Stimmung testet? Seine machtpolitisch bedeutungslose Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrats und seine Vorgeschichte als glückloser Präsident und Ministerpräsident von Wladimir Putins Gnaden lassen alle drei Möglichkeiten zu. Vermutlich kommen sie meist auch alle drei zusammen.
Kiew vielleicht im zweiten Anlauf
Je nachdrücklicher im Westen die Frage nach Friedensgesprächen zur Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges aufgeworfen wird, desto extremer äussert sich Medwedew zur Ukraine. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des russischen Grossangriffs sagte er gegenüber russischen Staatsmedien, das «Kiewer Regime» müsse vernichtet werden. Odessa rief er zur «Heimkehr» auf. Auch schloss er nicht aus, nochmals gegen die ukrainische Hauptstadt Kiew vorzurücken – wenn nicht jetzt, dann etwas später.
Zehn Tage später trat er vor dem internationalen Jugendfestival in Sotschi mit einer bizarren Rede auf. Zwar zog die Beobachter sein marineblaues Jackett in den Bann. Mindestens so kurios war eine Landkarte Osteuropas, die von der Ukraine nur noch einen Rumpfstaat rund um Kiew übrig liess. Der grösste Teil des ukrainischen Territoriums fiel in dieser Lesart Russland zu. Die Ukraine, sagte Medwedew bei der Gelegenheit, gebe es nicht.
Am Donnerstag verdeutlichte er, was das heissen könnte. In den sozialen Netzwerken zog er die sogenannte Friedensformel des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski ins Lächerliche. Selbst die «unverschämten westlichen Lügner» müssten doch erkennen, dass ein Frieden nur aufgrund vernünftiger Kompromisse oder einer Kapitulation einer der Parteien möglich sei. Die Ukraine wolle gar nicht verhandeln und die «Realitäten am Boden» anerkennen, die Putin gerade wieder in einem Fernsehinterview zur Bedingung für einen Frieden gemacht habe. Selenskis «Friedensformel» sei derart künstlich, dass er, Medwedew, ihr jetzt seine eigene entgegensetze.
Sieben Punkte mit Maximalforderungen
Diese besteht aus sieben Punkten. Die Ukraine nennt er darin durchgängig «frühere Ukraine». Diese habe, erstens, ihre Niederlage einzugestehen, bedingungslos zu kapitulieren und auf jegliche Truppen zu verzichten. Zweitens habe die internationale Gemeinschaft den «Nazi-Charakter» der ukrainischen Führung anzuerkennen und eine Entnazifizierung unter der Kontrolle der Uno durchzusetzen. Die Vereinten Nationen hätten sodann, drittens, festzustellen, dass die Ukraine ihren Status als völkerrechtliches Subjekt verloren habe und dass ohne die Zustimmung Russlands kein Rechtsnachfolger in eine Militärallianz eintreten dürfe.
Viertens sollten alle staatlichen Machtorgane aufgelöst und Neuwahlen unter der Aufsicht der Uno durchgeführt werden. Fünftens habe das neugewählte Übergangsparlament Reparationen und Kompensationen an Russland und an geschädigte Russen zu entrichten. Des Weiteren habe das Übergangsparlament zu beschliessen, dass das ganze Territorium der «früheren Ukraine» Territorium der Russischen Föderation sei, und ein Gesetz über die Vereinigung der Ukraine mit Russland zu verabschieden. Als siebten Punkt fordert Medwedew die Auflösung des Übergangsparlaments und die Anerkennung der Vereinigung Russlands mit der Ukraine durch die Uno.
Medwedews sarkastische Bemerkung, es handle sich um eine «milde russische Friedensformel», einen Kompromiss, aufgrund dessen «produktive Gipfel» unter Einbezug «unserer engen Freunde, der westlichen Partner» abgehalten werden könnten, deutet darauf hin, dass er damit ein drastisches Signal aussenden wollte: So irrwitzig dieser «Plan» für die Ukraine und den Westen aussehen muss, so unannehmbar ist Selenskis «Friedensformel» für den Kreml.
Eine Spitze gegen die Schweiz
Eine Spitze hat Medwedew dabei auch für die Schweiz parat. Der Titel seines Textes lautet «Über die ‹Friedensformel› der Kiewer Nazis, schweizerische ‹Friedenskonferenzen› und die reale Grundlage für Verhandlungen». Das zielt darauf ab, dass die Schweiz bei ihren Bemühungen um eine Friedenskonferenz zwar immer betont, Russland müsse mit am Tisch sitzen, aber trotzdem von Selenskis «Friedensformel» ausgeht.
Dass dies in Moskau auf wenig Gegenliebe stösst, zeigt nicht nur Medwedew. Aussenminister Sergei Lawrow wiederholt regelmässig sein Unverständnis über Bundesrat Ignazio Cassis. In einem Interview mit dem Propagandisten Wladimir Solowjow sagte er am Donnerstag, es sei seltsam, dass Cassis auf die «Friedensformel» hereingefallen sei. Lawrow sprach von einer Zwängerei. Dabei habe er Cassis vor kurzem in New York erläutert, dass das reine Zeitverschwendung sei. Anfang März hatte er sogar gesagt, Cassis Äusserungen zu den Friedensverhandlungen zeigten, dass dieser nicht wirklich verstehe, worum es gehe.
So zugespitzt sie auch sein mag: Medwedews Extremposition erinnert daran, dass es Moskau seit dem 24. Februar 2022 (und eigentlich schon weit davor) darum geht, die Ukraine ihrer Eigenständigkeit zu berauben, und dass Russland keine Ruhe geben wird, bis es dieses Ziel erreicht hat. Russland glaubt, derzeit Oberwasser zu haben. Das ist mehr als Wahlkampfrhetorik.








