Der 25-jährige Lobalu wird im Juni zum ersten Einsatz an einem Grossanlass kommen. Dem Entscheid ist ein langwieriges Verfahren vorausgegangen. Ob Lobalu im Sommer auch an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen darf, ist offen.
An den Leichtathletik-Europameisterschaften im Juni in Rom wird das Schweizer Team einen weiteren Medaillenkandidaten ins Rennen schicken können. Dominic Lobalu, 25 Jahre alt, hat vom Weltverband World Athletics die Startberechtigung für die Schweiz erhalten – obwohl er keinen Schweizer Pass hat.
Der Langstreckenläufer Lobalu plant, an den EM im Stadio Olimpico über 5000 und 10 000 Meter anzutreten. Die Startberechtigung für die Schweiz gilt vorerst für die EM. Ob Lobalu auch an den Olympischen Spielen in Paris laufen darf, ist in der Schwebe.
Dem Entscheid ging ein langwieriges Verfahren voraus. Im Sommer 2022 triumphierte Lobalu in Stockholm in der Diamond League über 3000 Meter; damals startete er unter neutraler Flagge. Die Startberechtigung galt allerdings nur für Meetings der Diamond League, von internationalen Titelkämpfen war Lobalu ausgeschlossen.
Der Schweizer Verband Swiss Athletics wollte das ändern, betonte aber stets, es gehe nicht darum, dass Lobalu unbedingt für die Schweiz laufen müsse. Swiss Athletics reichte im April 2023 beim Weltverband ein Gesuch ein, um Lobalu die Teilnahme an Grossanlässen zu ermöglichen. Eine Einbürgerung in der Schweiz kann für Lobalu erst frühestens im Jahr 2031 zum Thema werden – wenn er sich wahrscheinlich in der Spätphase seiner Karriere befindet.
Lobalu lebt schon seit fünf Jahren in der Schweiz
World Athletics gab dem Schweizer Gesuch im September 2023 statt, mit einer Einschränkung: Lobalu ist seitdem zwar für die Schweiz start- und rekordberechtigt. Für Teilnahmen an WM, EM und Olympischen Spielen hatte World Athletics Lobalu jedoch eine Wartefrist von drei Jahren auferlegt. Damit will der Weltverband verhindern, dass Länder vor internationalen Titelkämpfen für die Jagd nach Medaillen talentierte Sportler kurzerhand einbürgern. Gegen diese Wartefrist rekurrierte Swiss Athletics nun erfolgreich beim Weltverband.
Lobalus Fall ist anders gelagert. Für die Heimat Südsudan startete er nie. Einerseits, weil dort eine Volksgruppe an der Macht ist, die seine Eltern umgebracht hat. Anderseits existierte dieser Staat bei Lobalus Flucht 2010 gar nicht.
Auch ein Anschluss ans Flüchtlingsteam von World Athletics oder des Internationalen Olympischen Komitees (IOK) kam nicht infrage. Lobalu verfügt in der Schweiz über eine Aufenthaltsbewilligung B. Er lebt seit fünf Jahren in der Ostschweiz und war nie von der Sozialhilfe abhängig, Lobalu finanziert sein Leben mit dem Sport.
Vom Strassenjungen via Fussball zur Leichtathletik
Mit der Startberechtigung für die Schweiz endet für Lobalu eine Odyssee, die bereits im Kindesalter begann. Als Achtjähriger ging er mit seinen Eltern im Südsudan aufs Feld, doch was wie ein normaler Tag begann, endete in einem Drama. Lobalus Familie wurde von Rebellen umgebracht, nur er konnte fliehen. Eine italienische NGO verhalf ihm zu einem Platz auf der Ladefläche eines Trucks des Kinderhilfswerks UNHCR; so gelangte der Bub nach Kenya. Dort kam er in ein Flüchtlingscamp, wo über 200 000 Menschen lebten, später brachten ihn die Behörden in ein Waisenhaus.
Der Bub bekam in dem Heim eine rudimentäre Schulbildung, doch nach dem Ende der Grundschule war niemand mehr da, der das Schulgeld übernahm. Lobalu wurde in Nairobi zum Strassenjungen. In einem Gespräch vor zwei Jahren erzählte er, wie er schliesslich zum Läufer wurde. Er und ein paar Kumpels hörten, dass eine Schule Fussballspieler suche; wer es ins Team schaffte, musste kein Schulgeld bezahlen. Die Burschen wurden tatsächlich aufgenommen.
Der damals 15-jährige Lobalu sah sich aber nicht als Kicker, also ging er zum Schulleiter und sagte: «Eigentlich möchte ich laufen.» Der Mann schaute ihn an und sagte: «Du siehst aber nicht aus wie ein Läufer.» Kenya zählt zu den grossen Laufnationen, ungezählte Kinder träumen davon, mit schnellen Beinen eine Existenz aufzubauen – und nur wenige schaffen es. Da wartet niemand auf einen Dahergelaufenen aus dem Südsudan.
Doch Lobalu bekam seine Chance, er durfte an einem Wettkampf für seine Schule starten und gewann. Der Schulleiter meinte danach jedoch, das sei ja kein richtiges Rennen gewesen. Also schrieb er den Burschen für eine Veranstaltung mit stärkerer Konkurrenz ein. Und dieser siegte erneut. Lobalu schmunzelte, als er Jahre später von dieser Zeit erzählte. Er hatte sich mit seinem Talent und seiner Unverfrorenheit durchgesetzt.
In Genf setzt sich Lobalu vom Flüchtlingsteam ab
Allerdings gab es an seiner damaligen Schule kein eigentliches Laufteam, es gab keinen Trainer und keine Infrastruktur. Lobalu rannte jeden Tag zur Schule und wieder heim, das war sein einziges Training. An einem nationalen Schülerrennen kam dann ein Mann auf ihn zu und sagte, er vertrete das in Kenya basierte internationale Flüchtlingsteam der Läufer. Lobalu durfte sich bei dem Team in Ngong vorstellen; um sich das Geld für die Busfahrt zu verdienen, half er auf dem Markt beim Abladen von Kabisköpfen.
Der junge Mann schaffte es ins Team, konnte nun regelmässig trainieren und Wettkämpfe bestreiten. Doch die Bedingungen waren alles andere als ideal, im Jahr 2019 veröffentlichte das Magazin «Time» eine Recherche, in der ehemalige Mitglieder des Refugee Teams von diversen Missständen berichteten. Mehrere Läufer setzten sich ab – auch Dominic Lobalu. 2019 schlich er sich nach einem Rennen in Genf aus dem Hotel und schlug sich bis zum Bundesasylzentrum in Vallorbe durch.
Über Umwege gelangte Lobalu ins Toggenburg, wo ihm ein Probetraining beim LC Brühl in St. Gallen vermittelt wurde. In normalen Turnschuhen und mit langen Hosen meldete er sich auf der Bahn, er war körperlich in miserabler Verfassung, aber kaum lief er los, schoss es dem Coach Markus Hagmann durch den Kopf: «Wow, der hat es!»
Damit begann eine Zusammenarbeit, die weit über den Sport hinaus ging. Hagmann war auch treibende Kraft, als es darum ging, für den Flüchtling einen angemessenen Status und internationale Startmöglichkeiten zu finden. 2022 gewann Lobalu gleich beim ersten Auftritt in der Diamond League, jetzt darf er die Schweiz international vertreten. Eine Odyssee hat ihr Happy End gefunden.