Um eine eigene nukleare Abschreckung zu schaffen, braucht es Material, Techniken und ein Trägersystem. Industrieländer erfüllen diese Anforderungen. Im Prinzip jedenfalls.
Wie es scheint, kann sich Europa auf das nordatlantische Verteidigungsbündnis nicht mehr verlassen. Die neue amerikanische Regierung unter dem Präsidenten Donald Trump stellt die Allianz infrage. Womöglich gibt das Land sogar bald das Nato-Oberkommando auf. Selbst ein Austritt aus der Nato ist nicht ausgeschlossen.
Aus diesem Grund wachsen die Zweifel daran, ob sich der Schutzschirm der amerikanischen Atommacht auch noch in Zukunft über Europa erstrecken wird. Von dem plötzlichen Wandel aufgeschreckt, beraten die europäischen Staatschefs nun darüber, wie es mit der Verteidigung des Kontinents weitergehen soll.
Die favorisierte Option ist, dass Grossbritannien und Frankreich – die einzigen beiden europäischen Atommächte – mit ihren Nuklearwaffen auch einen Schutz für andere Länder wie Deutschland oder Italien bereitstellen.
Eine weniger wahrscheinliche, aber ebenfalls im Raum stehende Option bestünde darin, dass sich weitere Länder in Europa Atomwaffen zulegen. Allein die Überlegung kann heftige politische und ethische Diskussionen auslösen; in vielen Ländern ist der Bau eigener Atombomben tabu.
Sieht man vom Pro und Contra einer atomaren Aufrüstung einmal ab, so stellt sich die Frage, was ein Land überhaupt braucht, damit es eigene Atomwaffen produzieren kann. Die technischen Anforderungen sind hoch, aber für viele Länder überwindbar.
Kritische Materialien: Uran und Plutonium
Konventionelle Atombomben verdanken ihre Explosionskraft allein der Kernspaltung. Darum benötigt ein Land zu ihrer Herstellung spaltbare Isotope der Metalle Uran oder Plutonium, die sich für den Bombenbau eignen. Dies sind die einzigen Materialien, deren Beschaffung eine grössere Herausforderung darstellt.
Vorbereitung: Brüten und Anreichern
Die meisten Atombomben sind heute Plutoniumbomben. Das benötigte Plutoniumisotop lässt sich in speziellen Reaktoren durch Kernreaktionen aus Uran herstellen. Länder, die über Erfahrung im Reaktorbau verfügen, sind darum im Vorteil. Besitzt ein Land einen Reaktor zum «Erbrüten» von Plutonium, liegt der Verdacht nahe, dass es den Bau von Atombomben plant.
Das Plutonium sei einfacher zu erzeugen als das waffenfähige Uran – selbst für ein kleines Land wie Nordkorea oder die Schweiz, erläutert der Kernphysiker Walter Rüegg, ehemaliger Chefphysiker der Schweizer Armee. «Es ist eine Ingenieurfleissaufgabe», sagt er. «Im Prinzip kann das jedes technische Industrieland, das auf einem einigermassen guten Niveau ist.»
Uran hingegen ist nur dann für eine Bombe geeignet, wenn der Anteil des spaltbaren Isotops Uran-135 in der Stoffmischung gross genug ist. Zur Anreicherung dienen sogenannte Gaszentrifugen. Bei diesen Geräten handelt es sich um rotierende Zylinder. Die Zentrifugalkraft trennt die Isotope voneinander: Schwere Teilchen sammeln sich in der Nähe der Aussenwand, leichtere Teilchen weiter innen.
Weil das nicht in einem Durchlauf perfekt funktioniert, müssen viele Zentrifugen hintereinandergeschaltet werden. Für eine Bombe pro Jahr benötige man zwischen 100 und 1000 Zentrifugen, sagt Rüegg.
Zündung: Elektronik und Sprengstoff
In Atombomben sorgt ein komplexer Zündmechanismus dafür, dass die Explosion der Bombe ausgelöst wird. Dieser Mechanismus besteht aus der Zündelektronik und einer chemischen Sprengladung, die aus militärischem Hochleistungssprengstoff besteht. Die Sprengung drückt das Plutonium oder das Uran zusammen, bis es in diesem zur Kettenreaktion kommt.
Die Zündung einer Plutoniumbombe ist laut Rüegg technisch sehr viel anspruchsvoller als diejenige einer Uranbombe. Die kugelförmige Masse aus Plutonium muss nämlich streng symmetrisch auf die Hälfte oder sogar ein Viertel des ursprünglichen Volumens zusammengedrückt werden. Bei einer Uranbombe hingegen genügt es, zwei Uranmassen ineinanderzuschiessen.
Sonderfall Wasserstoffbombe: Kernspaltung plus Kernfusion
Wasserstoffbomben besitzen das Vielfache an Sprengkraft gegenüber gewöhnlichen Atombomben und sind komplizierter aufgebaut. Im Grunde genommen wird dabei zunächst eine auf Kernspaltung basierende Atombombe gezündet, welche dann Wasserstoff zur Fusion anregt. «Die Details der Konstruktion von Wasserstoffbomben sind nicht öffentlich bekannt», sagt Rüegg.
Die Arsenale der grossen Nuklearmächte sind mit vielen Wasserstoffbomben bestückt. Länder an der Schwelle zur Atommacht wie Iran begnügen sich im ersten Schritt immer mit dem Bau einer konventionellen Atombombe.
Trägersystem: Raketen, Marschflugkörper, Flugzeuge, U-Boote
Um eine abschreckende Wirkung zu erzielen, genügt es nicht, eine Atombombe nur zu bauen. Man muss auch die Fähigkeit besitzen, sie an ihr Ziel zu transportieren. Dafür eignen sich grundsätzlich Flugzeuge, Raketen und Marschflugkörper.
Die einfachste Lösung wären Jagdflugzeuge, die eine Bombe ungefähr 1000 Kilometer weit tragen könnten, sagt Rüegg. Etwas aufwendiger seien Langstreckenbomber, da habe Europa nicht viel zu bieten. Über passende Kurzstreckenraketen aber verfügt zum Beispiel Deutschland.
Für ein geeignetes Trägersystem hält Rüegg vor allem tief fliegende Marschflugkörper. Auch diese besitzt Deutschland bereits. Solche Marschflugkörper fliegen so nah über dem Boden, dass sie der Überwachung entgehen und nur schwer abzufangen sind.
Das ideale Trägersystem sind laut Rüegg Raketen, die von U-Booten aus gestartet werden. Die U-Boote seien praktisch unauffindbar, und man könne die Raketen relativ nah am verfeindeten Land starten – dann sei die Flugzeit kurz.
Bauen oder nicht bauen?
Die gegenwärtigen Nuklearmächte sind die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Frankreich, Grossbritannien, Nordkorea und Israel. Iran strebt zwar seit Jahren den Bau der Atombombe an, ist aber noch nicht am Ziel.
Die Konstruktion eines Reaktors in Iran, mit dem sich Plutonium erbrüten liesse, scheiterte am internationalen Widerstand. Auch wird das Land immer wieder durch das militärische Eingreifen Israels dabei gestört, sein Programm zum Bau einer Atombombe mit Erfolg zu krönen.
Viele andere Länder könnten theoretisch sehr wohl eine Atombombe bauen, aber sie haben bis jetzt aus politischen Gründen darauf verzichtet. Zu diesen Ländern zählen zum Beispiel Deutschland, Japan oder auch die Schweiz.
Machbar wäre es durchaus. «Ein Land muss einige tausend Ingenieure und einige Dutzend Milliarden Franken zur Verfügung stellen», sagt Rüegg. Doch es wäre keine Frage von Monaten, sondern eher eine von Jahren, bis die erste Bombe zur Verfügung stünde. Der Bau einer Atombombe durch Deutschland zum Beispiel würde selbst mit einem Expressprogramm mindestens zwei bis drei Jahre dauern, meint der Schweizer Nuklearexperte.
Realistischer als der Bombenbau ist eine andere Option
Wahrscheinlich ist es nicht, dass weitere europäische Länder eine Atombombe bauen. Sie müssten dazu aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen, und es wäre mit erheblichen aussenpolitischen Konflikten zu rechnen.
Vorerst bleibt die Ausdehnung des nuklearen Schutzschirms von Grossbritannien oder Frankreich auf weitere Teile Europas die weitaus realistischere Option, falls sich die USA tatsächlich zurückziehen sollten. «Das ist sicher die erste, unmittelbare Lösung», sagt Rüegg. «Man versucht, bestehende Mächte dazu zu bringen, den Schirm auszuweiten.»