Olaf Scholz’ Politikerleben ist arm an guten Neuigkeiten. Nun stellt er sich einem Gespräch mit der Schriftstellerin Juli Zeh und muss sich auch noch anhören, er sei der «meistgescholtene Mann der Republik» und habe einen «beschissenen Job».
Olaf Scholz hat es nicht leicht. Wer ist noch seine Basis, wer hält noch zu ihm? Seine Beliebtheit ist in Umfragen zwar noch im messbaren Bereich, aber er muss sich mittlerweile selbst von einer Alice Weidel schlagen lassen. Die «Bild»-Zeitung fährt eine Kampagne gegen ihn und versucht, seinen Parteikollegen Boris Pistorius als den fähigeren Kanzler darzustellen – «Zwei Drittel der Deutschen wollen Kanzler-Wechsel».
Das jüngste «Zeit»-Cover hatte den Titel: «Sind Sie noch der Richtige, Herr Scholz?» Eine rhetorische Frage. War er jemals der Richtige? Überall werden Zweifel gesät, aber Scholz müht sich weiter ab, beinahe unbeirrt. Ja er geht sogar auf die Barrikaden. Er, der die Politik wie kein anderer in Deutschland gestalten kann, demonstriert gegen Rechtsextremismus und befördert damit eine nationale Hysterie, die allerdings einen kleinen Fehler hat: Die AfD ist nicht die NSDAP, 2024 ist nicht 1933, jetzt ist nicht damals. Es soll Zivilcourage sein und wirkt doch verzweifelt, kurios. Allmählich könnte sich ihm gegenüber ein kollektives Gefühl breitmachen, das die Höchststrafe für jeden Politiker ist: Mitleid.
Der Zen-Kanzler: Kompass und Ruhe
Kann es in dieser Situation noch schlimmer kommen? Auf jeden Fall. Zum Beispiel, wenn sich dieser Politiker darauf einlässt, anlässlich eines Podiumsgesprächs in Potsdam zum Thema «In Zeiten des Umbruchs» die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh zu treffen. Beide sind Mitglieder der SPD, beide wohnen in Brandenburg und lesen gerne Bücher – damit wären die Gemeinsamkeiten umrissen. Zeh warnt vor dem Überwachungsstaat, ist gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, und sie kritisierte während der Pandemie die Aufweichung der Grundrechte. Sie ist so etwas wie die Patin der deutschen Landbevölkerung, auch wenn ihr dieser maternalistische Ausdruck nicht gefallen würde.
Er sei der «meistgescholtene Mann der Republik», sagte Zeh zu Scholz in Potsdam und mutmasste, dass sie längst in der Reha wäre, wenn sie nur einen Tag in seiner Haut stecken würde. «Man will doch mal hören, dass jemand dankbar ist, dass Leute diesen beschissenen Job machen.» Das war sozusagen die Begrüssung. Zeh war nicht als Moderatorin eingeladen, aber sie übernahm engagiert die Führung. Scholz betonte nun, wie wichtig es sei, einen inneren Kompass und eine innere Ruhe zu haben. «Wenn man jeden Tag guckt, wie der Wind weht, macht man eine falsche Politik. Man muss überzeugt sein, dass man das Richtige macht und am Ende auch Unterstützung bekommt.»
Manch einer im Publikum wird sich vielleicht gefragt haben, ob es nicht besser wäre, wenn Scholz mehr Zweifel hätte. Vielleicht ist der Kompass das Problem. Sodann lenkte Zeh das Gespräch auf den «Imperativ des katastrophischen Diskurses». Wer sich ihm nicht unterordne, müsse sich den Vorwurf gefallen lassen, den Ernst der Lage in der Welt nicht zu erkennen. Das verhindere einen differenzierten Diskurs, glaubt Zeh. Scholz pflichtete ihr wie meistens bei: Er versuche da nicht mitzumachen. «Und gleichzeitig achte ich panisch darauf, dass es nicht wie so ein auf Drogen gesetzter Optimismus klingt, wo man denkt: Wovon redet dieser Typ?» In dieser Weise versuche er Zuversicht zu vermitteln.
«Da findet eine Infantilisierung statt»
Das gelingt so mässig. Laut Zeh knirscht es im Land, weil es einen langen Entfremdungsprozess zwischen Politikern und Bürgern gebe. Sie sprach von Politikverdrossenheit und einem verbreiteten Gefühl, dass die Politiker, die im Amt seien, der Lage nicht gewachsen seien. So gebe es auch eine «Sehnsucht nach einem autokratischen Sound». Ob ein neuer Tonfall gefunden werden müsse, fragte Zeh schliesslich, um den Leuten mehr Vertrauen zu geben?
«Ja, das ist so», sagte Scholz wieder. Es habe ihm immer einen Stich versetzt, wenn jemand am SPD-Infostand gesagt habe: «Um mich geht’s in der Politik ja nicht.» Die Regierung habe in den letzten zwei Jahren aber viel gemacht, dass eine solche Aussage berechtigterweise nicht mehr gemacht werden könne. Scholz erwähnte die Erhöhung des Kindergelds, der Renten und des Mindestlohns.
Zeh wollte allerdings bei der Sprache bleiben. Diese sei Ausdruck einer gestörten Beziehung zwischen Politikern und Bürgern. Es werde der Eindruck erweckt, als müsse man sich ständig um die Bürger kümmern, müsse sie «auf Augenhöhe ansprechen und irgendwo abholen, als seien sie alle so verlorene Kinder, die von der Kita nicht alleine nach Hause finden». Die Bürger im Saal klatschten. «Da findet eine Infantilisierung statt», sagte Zeh, und besonders renitente Bürger würden im Zweifel als «Querdenker» taxiert. Scholz unterstrich wieder einmal alles – «ganz wichtige Sache» – und betonte, dass er eine solche Sprache fast nie anwende. «Aber Sie sagen doch so Sachen wie Doppel-Wumms», gab Zeh zurück, «das ist doch von Ihnen.» Scholz: «Das ist von mir. Und da bin ich auch stolz drauf.» Zeh: «Das ist auch Kita-Sprech.»
Zeh meinte, es wäre einmal eine Hausaufgabe für Scholz, einen Tag lang nicht «kümmern» zu sagen. Scholz: «Schaffe ich.»
Ein kreative Sprachwerkstatt für den Kanzler
Man stellt fest, dass diese Art der Auseinandersetzung recht produktiv ist. Die herausfordernde Art Juli Zehs führte dazu, dass Scholz seine gestanzte Politikersprache anpassen, neue Sätze entwickeln musste. Gewissermassen nötigte die Schriftstellerin dem Kanzler einen kreativen Sprachprozess auf, die Ampelregierung würde wohl von einer Sprachwerkstatt sprechen. Allerdings wich Scholz auch oft aus und suggerierte Einigkeit, wo sie eigentlich nicht bestehen kann – die Bürgerbevormundung, die Zeh anmahnte, kann dem Kanzler eigentlich nicht fremd sein. Sie ist der Geist seiner Politik, die davon überzeugt ist, besser zu wissen, was für die Menschen gut ist.
Manchmal temperierte Scholz die Unterschiede aber auch einfach etwas runter. Die Bauernproteste etwa stilisierte Zeh zum «Vitamin-Booster für das politische Miteinander». Hier zeige sich das Gegenteil der «Kümmern-Mentalität», indem Bürger nicht warteten, bis ihnen geholfen werde, sondern selbst die Initiative ergriffen. Scholz meinte, die Proteste seien kein Grund zur Aufregung. «Das steht ihnen zu.» Dabei rückte er sie in einer Videoansprache selbst noch vor wenigen Tagen in die Sphäre von Extremismus.
Eine Frau aus dem Publikum schlug vor, Scholz solle Juli Zeh als psychologische Beraterin anstellen. Es wäre ein interessantes Experiment. Projekt: Erdung der deutschen Politik.