Im bürgerlichen Lager bröckelt die Zustimmung für die Energievorlage von Bundesrat Rösti. Klimaschützer fürchten ein Déjà-vu – die SVP hofft darauf, dass sich das Klimaseniorinnen-Urteil negativ auswirkt.
Es war ein politisches Beben, wie es hierzulande nur selten vorkommt. Am 13. Juni 2021 sagten 52 Prozent der Stimmbevölkerung Nein zum CO2-Gesetz. Die SVP hatte es im Abstimmungskampf gegen alle massgeblichen Wirtschaftsverbände sowie die übrigen Parteien aufgenommen – und am Schluss völlig überraschend gesiegt. Der Coup der Volkspartei hallt bis heute nach – und lehrte die unterlegenen Parteien und Verbände das Fürchten.
Drei Jahre nach dem damaligen Urnengang steht im Juni wieder eine Abstimmung auf der Agenda, mit der die Weichen in der Energie- und Klimapolitik neu gestellt werden sollen. Entscheiden muss das Volk dieses Mal über das Stromgesetz, das dafür sorgen soll, dass die Schweiz genug Strom hat, um den Ausstieg aus den fossilen Energien zu schaffen.
Und wieder stellt sich die Frage: Gelingt den Gegnern – der SVP und einigen Natur- und Landschaftsschützern – das Kunststück, eine Kompromissvorlage zu bodigen, an der Bundesrat und Parlament jahrelang gearbeitet haben?
Auf den ersten Blick scheint ein solches Szenario unwahrscheinlich. Im Parlament hatten sich alle Parteien hinter das Stromgesetz gestellt – im Ständerat fiel das Ergebnis gar ohne Gegenstimme aus. Das Referendum gegen das Stromgesetz ergriffen hat zudem ein wenig Respekt einflössendes Bündnis, bestehend aus einer Handvoll unbekannter Einzelpersonen um den Neuenburger Pierre-Alain Bruchez, der Fondation Franz Weber und den Windkraftgegnern des Verbands freie Landschaft.
Doch seit die SVP Ende März an ihrer Delegiertenversammlung beschloss, gegen ihren eigenen Stromgeneral Albert Rösti in den Kampf zu ziehen, befürchten Energiewende-Enthusiasten und Klimaschützer ein Déjà-vu. Zumal die SVP-Führung keineswegs gedenkt, sich im Abstimmungskampf zurückzuhalten, nur weil ein Teil der Partei weiterhin hinter dem Stromgesetz steht.
SVP mit eigener Nein-Kampagne
«Wir werden präsent sein», sagt der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Bereits sind Plakate und Flyer für die Nein-Kampagne im Druck. Der Zuger Nationalrat sieht intakte Chancen, den Erfolg von vor drei Jahren zu wiederholen. Zwar stehe die Classe politique wie schon beim CO2-Gesetz fast geschlossen hinter der Vorlage. «Die Bevölkerung jedoch sieht die Verschandelung der Landschaft mit Windrädern und Solaranlagen viel kritischer.» Einen Schub erhofft sich Aeschi durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Klage der Klimaseniorinnen; der Widerstand gegen das Stromgesetz werde damit noch grösser werden.
Auch bei der FDP gibt es Anzeichen, dass der Support für das Stromgesetz bröckelt. Ende März sprach sich die Kantonalsektion Aargau völlig überraschend mit 40 zu 17 Stimmen gegen das Stromgesetz aus. Sie widersetzte sich dem Votum der Mutterpartei, die sich noch im Januar klar hinter den Mantelerlass stellte.
«Bereits an der Delegiertenversammlung haben sich kritische Stimmen innerhalb der Partei zu Wort gemeldet. Sie halten das Stromgesetz für verfassungswidrig, weil es die Energieversorgung vor andere nationale Interessen stellt», sagt der FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Besonders wenn es um den Bau von Windrädern geht, missfällt das einem Teil der FDP-Mitglieder.
Wasserfallen schliesst nicht aus, dass sich nach dem Aargau weitere Kantonalsektionen gegen das Stromgesetz aussprechen werden. Er betont allerdings, dass der Widerstand innerhalb des Freisinns deutlich weniger weit gehe als im Abstimmungskampf über das CO2-Gesetz. «Die höheren Benzinpreise, die Flugticket-Abgabe und der Klimafonds haben damals bei vielen von uns Kopfschütteln ausgelöst. Das Stromgesetz elektrisiert die Parteibasis weit weniger.» Der Berner selber befürwortet die Vorlage, weil sie die Fehler der Energiestrategie zumindest teilweise korrigiert – etwa indem der Ausbau der Wasserkraft forciert wird.
Politologen rechnen mit einem Ja
Politanalysten bezweifeln derweil, dass sich die Geschichte von vor drei Jahren wiederholt. Michael Hermann erinnert daran, dass sich immer noch fast 40 Prozent der SVP-Delegierten für das Stromgesetz aussprechen. «Das fällt stärker ins Gewicht als der Umstand, dass ein Teil der FDP-Basis Nein stimmen wird.» Entsprechend unwahrscheinlich sei ein erneuter Coup der SVP.
Es seien vor allem die finanziellen Zusatzbelastungen gewesen, die das CO2-Gesetz in der Bevölkerung unpopulär gemacht hätten, sagt der Sotomo-Chef. Beim Stromgesetz jedoch sei es viel schwieriger, ein Kostenargument zu konstruieren. Hinzu kommt laut Hermann, dass die SVP 2021 davon profitierte, dass die beiden Agrarinitiativen zeitgleich an die Urne kamen. Das habe eine starke Mobilisierung von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern in ländlichen Regionen ausgelöst.
Eine Mehrheit gewinnen können die Gegner des Stromgesetzes laut Hermann nur, wenn es ihnen gelingt, einen Teil des links-grünen Lagers auf ihre Seite zu ziehen. Klare Hinweise auf einen solchen Trend gebe es bis jetzt aber nicht. SP, Grüne wie auch die massgeblichen Umweltverbände stünden praktisch geschlossen hinter der Energievorlage. «Der Widerstand der Naturschützer fokussiert sich auf einzelne konkrete Kraftwerkprojekte, weniger auf die nationale Gesetzgebung», konstatiert Hermann.
Etwas weniger eindeutig schätzt Lukas Golder vom Forschungsinstitut GfS Bern die Ausgangslage ein. «Abstrakte Behördenvorlagen wie das Stromgesetz sind grundsätzlich immer angreifbar», sagt der Politologe. Gelinge es den Gegnern, den abstrakten Massnahmen konkrete Auswirkungen für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger gegenüberzustellen, hätten sie intakte Erfolgschancen.
Beim Stromgesetz dürfte es jedoch laut Golder schwierig werden, einzelne Massnahmen auf die persönliche Ebene herunterzubrechen, da diese für die meisten Menschen im Alltag kaum direkte Folgen hätten. «Natürlich kann man die Windräder skandalisieren», sagt der Politologe. «Ich sehe jedoch keine Zuspitzung, die eine Nein-Welle erzeugen könnte.»
Vorteil Rösti
Erschwerend kommt hinzu, dass die federführende Person im Bundesrat nun Albert Rösti heisst – und nicht Simonetta Sommaruga. «Mit einer linken Departementsvorsteherin war es für die SVP viel leichter, Stimmung für ein Nein zu erzeugen», sagt Golder. Trete Rösti im Abstimmungskampf entschlossen auf und mache auf jene Massnahmen im Gesetz aufmerksam, die im Sinne der SVP-Anhängerschaft seien – so etwa der Ausbau der Wasserkraft –, habe er gute Chancen, dass die Basis ihm folge.
Sowohl Golder als auch Hermann erwarten deshalb ein Abstimmungsergebnis, das näher beim angenommen Klimaschutzgesetz vom vergangenen Sommer liegt als beim abgelehnten CO2-Gesetz. Zum Klimaschutzgesetz sagten fast 60 Prozent Ja.