Er war der Begründer der hyperrealistischen Pop-Art. Heute würde der amerikanische Künstler Duane Hanson hundert Jahre alt.
«Du sollst dir kein Bild machen», lautet eine Warnung Gottes. Denn das Bild verfängt. Man fängt an, an es zu glauben, es mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Die emotionale Verstrickung wächst sich zur Projektion aus, und schon spricht man zu den Puppen, bis sie sich, die eigenen Gefühlsregungen kannibalisierend, zu regen und zu tanzen beginnen.
Duane Hanson, der heute vor hundert Jahren in Alexandria, Minnesota, zur Welt kam, hat diese Neigung zur Übertragung gut erkannt, als er sich mit Skulptur zu befassen begann. Der Begründer des Hyperrealismus, einer Spielart der amerikanischen Pop-Art, verstand sich selbst nicht als Pop-Art-Künstler, sondern als Bildhauer. Aus dieser Perspektive dürfte ihm besonders klar gewesen sein, dass die Bewunderung für die Kunst schon immer auch in der Verwunderung über ihre Nähe zur Realität bestand.
Den allzu menschlichen Hang, realistischen Ebenbildern zu verfallen, machte sich Hanson für seine lebensgrossen, wie echt aussehenden Figuren zunutze. Hansons Kunststück gründet eigentlich im Verismus, der vorsätzlich augentäuschenden Nachbildung der Realität. Seine Skulpturen verblüffen durch ihre künstliche Echtheit. Bis auf jede Falte, jede Ader, jede Pore sind sie lebendigen Vorbildern nachgebildet, die der Künstler seit den sechziger Jahren im amerikanischen Alltag fand.
Allerdings sind nur die wenigsten seiner Kunststoff-Plastiken einem bestimmten Individuum nachempfunden. Hansons Werke sind eine Art Collage von Individuen, also ganz bewusst komponierte Figuren. Dennoch: Wann immer wir in einer der öffentlichen Kunstsammlungen dieser Welt auf ein solches Werk des Amerikaners stossen, glauben wir für den ersten Augenblick, auf einen realen Menschen zu treffen.
Dabei bestehen die Figuren nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Polyesterharz. Das elastische Material erlaubte es dem Künstler, selbst den Haarwuchs auf Körper und Kopf täuschend echt zu gestalten. In seinen Figuren ist Hansons Faszination für das menschliche Erscheinungsbild nicht zu übersehen: «Das Wunderbare an einer menschlichen Gestalt ist, dass jeder Körper, jedes Gesicht anders ist. Unter Millionen von Menschen gibt es keine zwei, die sich gleichen, ausser vielleicht eineiige Zwillinge. Wie konnte das passieren? Wir alle haben Nasen, Ohren und Mund, und sie sind alle unterschiedlich. Es gibt Millionen und Milliarden solcher Kombinationen.»
Für die trügerische Echtheitsgarantie seiner Werke sorgen auch echte Kleidungsstücke sowie Perücken und allerlei Accessoires aus der Konsumwelt: die Sprite-Büchse etwa, die Hanson seinem «Delivery Man» in die Hand gelegt hat, oder die Lifestyle-Zeitschrift «Culture and Life», die auf dem Boden neben der sich im Sofa fläzenden «Housewife» mit der Trockenhaube liegt.
Einfache Menschen des Alltags
Duane Hansons Werke erinnern an die Figuren in den Wachsfigurenkabinetten einer Madame Tussaud. Wachsfigurenkabinette indes haben immer auch etwas von einem Gruselkabinett – eine Geisterbahn der toten Untoten aus den Untiefen der Geschichte: Täuschend echt und lebendig treten sie vor uns, gleichsam zu ewigem Leben erstarrt. Aber ist das Kunst? Wir würden eine Wachsfigur von Elvis oder selbst Picasso nie für ein Kunstwerk halten. Und als Marie Tussaud 1778 mit 17 Jahren bei ihrem Förderer Philippe Curtius in Bern das Handwerk der Moulage erlernte, dachte sie aber wohl kaum an Kunst.
Sie machte zwar Abbilder von Menschen für das Revolutionsmuseum in Paris. Ihre Sujets waren indes vor allem prominente Opfer der Französischen Revolution. Zu schnell verwesten die Köpfe der Hingerichteten, die auf Lanzen steckend zur Schau gestellt wurden. Man musste sie durch solche aus Wachs ersetzen. Auch heute zeigen die über die ganze Welt verteilten Showräume des Unternehmens Madame Tussaud keine Kunstwerke, sondern Berühmtheiten aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Sport – als Attraktion der perfekten Simulierung von Wirklichkeit wie damals.
Duane Hanson hingegen konservierte keine berühmten Menschen für die Ewigkeit. Er übertrug das alltägliche Leben seiner Gegenwart in die Kunst. Seine Figuren sind einfache Leute, alt oder jung, Handwerker, Putzfrauen oder gar Obdachlose. Nie aber verkörpern diese Fiberglas-Simulakren das historisch Bedeutende, das es wert wäre, für die Nachwelt in Bronze oder Wachs gegossen zu werden. Im Gegenteil. Seine Figuren stellen oft die Schattenseiten des Lebens, insbesondere des amerikanischen Traums dar.
Im Gegensatz zur Denkmalkunst ent-heroisierte Hanson die Skulptur. Sein «Football Player» ist kein Star, sein mit Fotoapparat und buntem Hawaii-Hemd ausgestatteter «Tourist» ein Nobody. Der «House Painter», der dabei ist, eine Museumswand neu zu streichen, macht gerade eine Pause. Ist es Einsamkeit oder Langeweile, die ihn so nachdenklich vor sich hin starren lässt?
Eine ähnliche Tristesse geht von «Old Couple on a Bench» aus. Das ältere Ehepaar sitzt in sich gekehrt auf einer Museumsbank, als hätten sich die beiden schon lange nichts mehr zu sagen. «Das Hauptthema, um das es mir geht, betrifft die typischen Amerikaner der Unter- und Mittelschicht. Die Resignation, die Leere und die Einsamkeit zeigen für mich die wahre Realität des Lebens, das diese Menschen führen.»
Aus der Zeit gefallen
Duane Hansons Figuren irritieren. Denn wir wissen oft nicht gleich, dass wir überhaupt Kunst betrachten. Gehen wir ins Museum und halten vor einem Gemälde von van Gogh inne, so sind wir uns bewusst, dass wir einen van Gogh anschauen. Selten aber finden wir uns im Museum absichtlich vor einem Duane Hanson wieder.
Das Musterbeispiel für diese Erfahrung eines Verzögerungseffekts ist sein «Security Guard»: ein Museumsaufseher, der meistens unscheinbar in einer Ecke steht. Achtlos gehen wir an ihm vorbei. Bis wir realisieren, dass da etwas nicht ganz stimmt. Er passt irgendwie nicht in die Umgebung. Sei es, dass er ein Abzeichen des amerikanischen Sternenbanners auf dem Hemd trägt. Oder sei es, dass sich sein Blick doch etwas zu starr in der Ferne verliert.
Wachsfiguren sind historische Figuren. Hansons Figuren haben eine andere Zeitlichkeit. Wie Tussauds Männer und Frauen altern sie zwar nicht, sie sind aber auch nicht zu Hause in ihrer Epoche, sondern gleichsam aus der Zeit gefallen. Hansons Werken erwächst im Museum Geschichtlichkeit.
Das fällt etwa durch ihren Kleidungsstil ins Auge. Oder durch die Accessoires aus dem letzten Jahrhundert, die es heute längst nicht mehr gibt. Lebensecht scheint da eine Besucherin mit Kinderwagen durch den Ausstellungsraum zu gehen. Erst beim genauen Hinsehen geht einem auf, dass es sich bei dieser Frau um eine Amerikanerin aus den sechziger Jahren handelt.
Hanson hat im Grunde nicht Menschen in Form von Skulpturen festgehalten, sondern ein Lebensgefühl: dasjenige seiner eigenen Zeit, wie es in den USA die Mittelschicht und die Arbeiterklasse prägte. Damit war Duane Hanson auch ein wichtiger Vertreter der sozialkritischen Kunst.
Seine Werke zeugen von grossem Einfühlungsvermögen und Sympathie für die von ihm dargestellten Menschen. «Durchschnitt, das sind wir alle», sagte er einmal. Nicht zuletzt galt sein Interesse den gesellschaftlich Benachteiligten, Marginalisierten und Unterdrückten. So griff er wiederholt schwierige Themen der amerikanischen Gesellschaft auf und übte damit Kritik an den sozialen Missständen. «Policeman and Rioter» ist sein drastischstes Beispiel dafür. Es zeigt einen weissen Polizisten, der auf einen am Boden liegenden Schwarzen einschlägt.
Hanson wollte ein Stück Realität ins Museum holen. Denn von der Wirklichkeit war er berührt und fasziniert. «Meine Bilder treffen nicht annähernd die Realität. Die Welt ist so bemerkenswert, erstaunlich und überraschend, dass man nicht zu übertreiben braucht. Was da existiert, ist einfach irrsinnig.»
Seine Figuren verbinden die Realität mit der Kunst schon beinahe bruchlos. Gerade aber in ihrer leisen Irritation und Erschütterung erzeugen sie eine kaum wahrnehmbare Bruchstelle zur Wirklichkeit. Darin sind diese hyperrealistischen Kunstwerke eben doch mehr als die blosse Realität.