Der politische Konflikt um flexiblere Arbeitszeiten in der Schweiz geht von neuem los. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat einen alten Vorstoss aus der Versenkung geholt. Dieser fordert vor allem für Erwerbsarbeit zu Hause mehr Spielraum und bringt Gewerkschafter auf die Palme.
Langer Anlauf, kurzer Sprung. Das ist die Zusammenfassung eines über zehnjährigen Konflikts in der Bundespolitik um flexiblere Arbeitszeiten. Die jüngste Etappe dauerte etwa sieben Jahre. Sie begann mit einer parlamentarischen Initiative von 2016. Diese forderte keine Verlängerung der Arbeitszeiten, aber die Möglichkeit einer flexibleren Verteilung via Jahresarbeitszeitmodell. Und dies nur für hochqualifizierte Angestellte mit grosser Arbeitsautonomie und bei Zustimmung der Betroffenen. Laut den Befürwortern ging es im Wesentlichen um eine Anpassung des Rechtsrahmens an die betrieblichen Realitäten für vielleicht 10 bis 20 Prozent der Arbeitnehmer.
Doch die Gewerkschaften gingen in den rhetorischen Schützengraben und sprachen von einem Frontalangriff auf die Gesundheit der Arbeitnehmer. Die Reformer schreckten vor einer schwierigen Referendumsabstimmung zurück und begnügten sich am Ende mit einer Minireform, die keine Gesetzesänderung braucht und gewisse Lockerungen nur für wenige Arbeitnehmer brachte. Diese Lockerung trat via Revision der massgebenden Bundesratsverordnung Mitte 2023 in Kraft.
Treuhänder ruhiggestellt
Vorgesehen ist darin die Möglichkeit eines Jahresarbeitszeitmodells für Hochqualifizierte mit grosser Arbeitsautonomie, die hauptsächlich für Wirtschaftsprüfung/Treuhand/Steuerberatung tätig sind; dieser Sektor kennt starke saisonale Schwankungen des Arbeitsanfalls. Zudem gab es kleinere Lockerungen für Informatikbetriebe unter gewissen Voraussetzungen wie Dringlichkeit oder internationale Zusammenarbeit.
Diese Minireform hat vor allem die Treuhänder und Wirtschaftsprüfer politisch ruhiggestellt; diese Branche stand am Ursprung der besagten parlamentarischen Initiative. Doch Bedürfnisse nach flexibleren Arbeitszeiten gibt es noch in manch anderen Sektoren.
Nun ist der Konflikt neu aufgeflammt. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat diesen Monat eine weitere parlamentarische Initiative von 2016 aus der Versenkung geholt. Dabei geht es um einen Vorstoss des heutigen FDP-Präsidenten Thierry Burkart unter dem Titel «Mehr Gestaltungsfreiheit bei Arbeit im Homeoffice». Der Vorstoss fordert zum einen die Möglichkeit von bewilligungsfreier Sonntagsarbeit zu Hause für Angestellte, die ihre Arbeitszeit «zu einem namhaften Teil» selber festlegen können.
Generell verlangt der Vorstoss auch einzelne Lockerungen ausserhalb des Sonntags für Angestellte mit grosser Arbeitszeitautonomie. So soll für solche Personen der Zeitrahmen zulässiger Arbeit pro Tag im Grundsatz von 14 Stunden pro Tag auf 17 Stunden wachsen. Das heisst nicht, dass die Leute heute 14 Stunden und künftig 17 Stunden am Tag arbeiten. Die Befürworter der Lockerung zeichnen vielmehr folgende Illustration: Eine Fachkraft beginnt um 7 Uhr mit der Arbeit, verbringt die Zeit von 16 bis 21 Uhr mit der Familie und arbeitet danach noch eine Stunde zu Hause berufliche E-Mails ab. Das würde den ordentlichen gesetzlichen Rahmen von 14 Stunden bereits sprengen.
Zudem könnte die betroffene Fachkraft am Folgetag im Normalfall erst um 9 Uhr morgens mit der Arbeit beginnen, weil das Gesetz im Prinzip zwischen zwei Arbeitstagen eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden verlangt. Der parlamentarische Vorstoss verlangt deshalb auch, dass «gelegentliche Arbeitsleistungen von kurzer Dauer» in diesem Kontext nicht als Unterbrechung der Ruhezeit gelten. Die Nationalratskommission hat nun mit 17 zu 7 Stimmen beschlossen, einen konkreten Gesetzesvorschlag mit den genannten Eckwerten des Vorstosses auszuarbeiten.
Im Wilden Westen?
Der alte Konflikt wird nun quasi durch die Hintertür des Heimbüro-Themas wieder ins Zentrum der Bundesberner Politikbühne gerückt. Die Gewerkschaften sind bereits in bewährter Manier erneut in den Schützengraben gestiegen. Der Gewerkschaftsbund sprach in seiner Stellungnahme zum Beschluss der Nationalratskommission von «Wild-West-Verhältnissen» und warnte vor «Gratisarbeit, Stress und Burnout».
Die Arbeit im Heimbüro hat durch die Pandemie einen starken Aufschwung erlebt. Nach vorherrschender Einschätzung wird die Heimbüro-Arbeit trotz dem Ende der Pandemie deutlich über dem Vorkrisenniveau bleiben.
Gemäss Bundesdaten ist der Anteil der Erwerbstätigen, die mindestens gelegentlich zu Hause arbeiten, von 2019 bis 2021 von 25 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Der Rückgang im ersten Jahr nach der Pandemie (auf 37 Prozent 2022) hielt sich in engen Grenzen. Knapp ein Viertel aller Erwerbstätigen arbeiteten 2022 regelmässig zu Hause. Die Vergleichbarkeit der Daten ab 2021 mit den früheren Angaben ist wegen geänderter Fragestellung eingeschränkt, doch das Bild der stark gestiegenen Heimbüro-Arbeit ist klar genug (vgl. Grafik).
Ähnliches gilt auf globaler Ebene. Gemäss einer Umfrage bei rund 35 000 Erwerbstätigen in 34 Ländern arbeitete von April bis Mai 2023 rund ein Drittel teilweise oder ganz zu Hause. Der Durchschnitt aller Befragten (inkl. der Erwerbstätigen ohne Heimarbeit) lag bei knapp einem Tag pro Woche Heimarbeit. Die Befragten wollten im Mittel zwei Tage pro Woche zu Hause arbeiten, während die Planung der Arbeitgeber einen Durchschnitt von rund einem Tag Heimarbeit pro Woche vorsah.
Abgrenzung noch offen
Der Text der parlamentarischen Initiative macht nicht klar, ob nebst der Möglichkeit zu bewilligungsfreier Sonntagsarbeit auch die anderen verlangten Lockerungen auf die Erwerbsarbeit zu Hause beschränkt sein sollen. Diese Frage wird bei der Ausarbeitung des konkreten Gesetzesvorschlags zu klären sein. Dies gilt auch für die anderen Bedingungen. Der Initiativtext spricht von hoher Arbeitszeitautonomie. Denkbar wären in Anlehnung an die Lockerungen für die Treuhandbranche auch gewisse Bedingungen in Sachen Lohn oder Bildungsstand.
Ob die Reformer dieses Mal eine Referendumsabstimmung riskieren wollen, muss sich noch zeigen. Eine Alternative wäre der Verbleib beim rechtlichen Status quo – mit dem Wissen, dass manche hochqualifizierten Arbeitnehmer die geltenden Gesetzeseinschränkungen routinemässig ignorieren.