Der französische Spielfilm von Caroline Poggi und Jonathan Vinel ist eine intime Tragödie, die sich sowohl in einem Online-Spiel als auch in der realen Welt abspielt.
Der Titel könnte von einem Science-Fiction-Erzählband Philip K. Dicks stammen, doch Ausstattung und Plot verorten «Eat the Night» in der unmittelbaren Gegenwart. Apolline, genannt Apo (Lila Gueneau), und ihr Bruder Pablo (Théo Cholbi) leben elternlos im Einfamilienhaus in einer anonymen Stadt Nordfrankreichs. Sie verbringt die Tage in der Schule, er dreht auf dem Motorrad Runden, um seine Kunden mit Ecstasy-Pillen zu versorgen.
In ihren freien Stunden sitzen beide vor dem Computer und versinken im Spiel «Darknoon». Apolline erfährt in einer Szene, dass das Computerspiel in absehbarer Zeit vom Netz genommen wird. «An der Wintersonnenwende», meldet der Server, werde sich das Fenster in ihre virtuelle Welt schliessen und sich ihr Avatar im Schwarz des Bildschirms auflösen.
Während Apo sich wehmütig für den D-Day wappnet, verliebt sich Pablo in den Supermarktangestellten Night (Erwan Kepoa Falé), der ihm nach einer Schlägerei mit einem konkurrierenden Drogenhändler auf die Beine hilft.
Grüne und blaue Traumlandschaften
Mit «Eat the Night» lotet das Regieduo Caroline Poggi und Jonathan Vinel («Jessica Forever», 2018) die Übergänge zwischen Fantasy und Realität aus. Was ihr Werk jedoch von vergleichbaren Genre-Experimenten unterscheidet, ist die Mischung der Bildsprachen: Apollines Emotionen spiegeln sich vornehmlich in den wechselweise giftgrünen und sattblauen Traumlandschaften. Im Kontrast zur flirrenden Innenwelt der Schwester steht der harte, minimalistisch erzählte Thriller, der sich im Kielwasser von Pablos Kleinkriminalität entwickelt.
Der Stil navigiert souverän zwischen Melodram, Neo-Noir, Klassizismus und gibt immer wieder Raum für poetische Bilder und kleine formale Spielereien – etwa wenn auf dem Überwachungsmonitor, der einen Einbruch zeigt, plötzlich Apollines Gesicht erscheint. Das leerstehende Haus am Waldrand, in dem Pablo Unterschlupf sucht oder Drogen herstellt, erinnert an die Kulisse eines modernen Märchens. Die Zubereitung der Substanz ist wiederum nüchtern inszeniert – fast wie in einem Youtube-Tutorial.
Die zivilisatorischen Ruinen, zwischen denen sich die Handlung entfaltet – gedealt wird vornehmlich auf grauen Parkplätzen, in Wohnblöcken und blassen Imbissbuden –, werden zum Negativ des gotischen Ambiente von «Darknoon». Die Utopie der Schwerelosigkeit, wie sie im Spiel zelebriert wird, findet eine Entsprechung in den rasenden Fahrten auf dem Motorrad. Der Dramaturgie wird ein Countdown unterlegt: Die tickende Uhr, die die verbleibenden Tage bis zum Shutdown des Videospiels abzählt, verleiht dem Versuch der Figuren, dem drohenden Game-over zu entkommen, eine dramatische Färbung.
Keine Zukunft?
Die bevorstehende Apokalypse, auf die Apollines Name anspielt, und dass sich das meiste in der Nacht ereignet, taucht den Film überdies in eine bedrohliche Atmosphäre. Ist den Figuren jedwede Zukunft verbaut?
In der vielleicht einzigen, etwas klischierten Szene bricht Apolline mit ihrem Vater, als dieser, bei seinem Besuch und als Reaktion auf ihre Zurückweisung, ihren Computer zerstört. Für Apolline bedeutet das Ende des Spiels auch der Untergang der Welt.
Die Weltuntergangsstimmung bietet dem Kino eine prägnante Kulisse, das hatten bereits «Melancholia» (Lars von Trier) und Jeff Nichols’ «Take Shelter» demonstriert. Auch die französische Produktion zelebriert nun den Rausch, den Darsteller überkommt, wenn sie an der Schwelle des Abgrunds stehen. Neu ist die synthetische Filmsprache, in der sich die Bilder aus dem realen Leben und dem Computerspiel visuell vermengen und die ästhetischen Grenzen verfliessen: Die digitale Welt und die Wirklichkeit stehen sich nicht mehr gegenüber, sie sind komplementär.
Im Kino.