Long Covid und das chronische Fatigue-Syndrom führen bei Betroffenen oft zu existenzieller Not. Um darauf aufmerksam zu machen, haben Patienten vom Krankenbett aus eine Digitalkonferenz organisiert. Dort sprachen auch Forscher über neue Therapieansätze.
«Ich glaube fest daran, dass viele Krankheitsprozesse rückgängig gemacht werden können», sagte die amerikanische Immunologin Akiko Iwasaki zum Ende ihres Vortrags. «Nicht bei jedem Long-Covid-Patienten», betonte sie – wohl aber bei vielen. Die Yale-Professorin sendete damit jenes Signal der Hoffnung, nach dem sich wohl viele Teilnehmer der Digitalkonferenz «Unite to Fight» verzehrt hatten.
Zusammenstehen, um zu kämpfen. Unter diesem Motto haben Mitte Mai mehrere tausend Zuhörer aus aller Welt einer besonderen Veranstaltung beigewohnt. Organisiert haben sie Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene vom Krankenbett aus: Sie starteten ein Crowdfunding, gewannen internationale Top-Wissenschafter sowie hochrangige Politiker als Redner, um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen.
Den Anstoss gab ein trauriger Fall: der nahezu öffentliche Suizid der 28-jährigen Lauren. Lange Zeit hatte die Niederländerin in ihrem Blog über ihr Leben mit ME/CFS berichtet. Die Myalgische Enzephalomyelitis (ME), häufig als Chronisches Fatigue Syndrom (CFS) bezeichnet, ist eine oft postviral auftretende Multisystemerkrankung. Sie ist auch die schwerste Form von Long Covid, das noch immer bis zu fünf Prozent der Corona-Infizierten ereilt.
Millionen von Menschen weltweit waren zudem bereits vor der Pandemie an ME/CFS erkrankt, zum Beispiel nach einer Infektion mit Herpesviren. Häufig leiden sie unter bleierner Erschöpfung und Nervenschmerzen, viele berichten von Gleichgewichtsproblemen und Konzentrationsstörungen. Gemein ist ihnen vor allem ein Symptom: die Post-exertionelle Malaise (PEM), eine unverhältnismässige Zustandsverschlechterung («Crash») nach mitunter nur geringer Belastung. Jeder vierte Betroffene ist hausgebunden oder gar bettlägerig.
Tod von Lauren war ein Schock
So ging es auch Lauren. Ihren Followern berichtete sie zuletzt detailreich, wie sie sich um Sterbehilfe bemühte – und machte Ende Januar sogar Tag und Uhrzeit öffentlich. Der Schock unter den online gut vernetzten Patienten war gross. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Ankündigung.
Hier bekommen Sie Hilfe
Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen.
Ein neues Phänomen sind Suizidfälle unter ME/CFS-Erkrankten keineswegs. Nicht selten erleben Betroffene ihre Not als existenziell. In diesem Februar legten Schweizer Mediziner eine Befragung von 169 ME/CFS-Erkrankten vor – fast 40 Prozent berichteten von Suizidgedanken. Zwar dürften milder Erkrankte in der Studie unterrepräsentiert sein, dennoch mehren sich die Hinweise auf ein tatsächlich erhöhtes Suizidrisiko. Weil mit Long Covid die Fallzahlen stiegen, scheint es nun sichtbar zu werden: Sterbehilfeorganisationen aus der Schweiz und aus Deutschland erreichten zuletzt auffällig viele Anfragen von ME/CFS-Erkrankten.
Der amerikanische Psychologe Leonard A. Jason hat intensiv zu diesem Thema geforscht. «Es gibt eindeutige Belege, dass Suizide bei ME/CFS häufiger vorkommen», sagt der Professor der DePaul University in Chicago. Mehrfach analysierte er Todesfälle von ME/CFS-Patienten: Jeder fünfte ging auf einen Suizid zurück. Eine britische Untersuchung, 2016 im Fachjournal «The Lancet» erschienen, bestätigte die erhöhte Gefährdung. Die Fallzahlen waren naturgemäss klein, weshalb die Ergebnisse mit Unsicherheiten behaftet sind. Doch der Trend ist klar.
Die amerikanische Immunologin Iwasaki, weltweit führend in der Forschung zu postinfektiösen Erkrankungen, hält dies für plausibel. «Ich habe gesehen, wie Menschen mit ME/CFS und schwerem Long Covid unermesslich leiden, ans Bett gefesselt sind und in einen Abgrund der Verzweiflung stürzen», sagte sie der NZZ. «Sie leiden nicht nur an körperlichen Symptomen, sondern haben auch Schuldgefühle gegenüber Familie und Freunden, die sie pflegen, sind traurig über den Verlust ihrer Lebensgrundlage und verzweifeln, weil sie keine Behandlung bekommen, die ihnen helfen könnte.»
Herabwürdigung durch Gutachter
Das entspricht der praktischen Erfahrung von Therapeuten wie dem Wiener Neurologen Michael Stingl. In den vergangenen Jahren behandelte er rund 2000 Patienten mit ME/CFS und Long Covid, mehr als jeder andere Arzt in Österreich. An fünf Suizidfälle unter seinen Patienten erinnert er sich – und noch häufiger daran, mit Gedanken an eine Selbsttötung konfrontiert zu sein.
«Das äussern viele – nicht in einem depressiven Kontext, sondern sehr abwägend», sagt Stingl. «ME/CFS ist für Schwerbetroffene mit einer äusserst geringen Lebensqualität verbunden. Viele können nicht arbeiten, werden aber als arbeitsfähig eingestuft und verlieren deshalb ihre Ansprüche auf Sozialleistungen. Hinzu kommt die Herabwürdigung durch Gutachter, die ihnen nicht glauben, und Ärzte, die ihnen nicht weiterhelfen können – es ist eine menschliche Katastrophe.»
Der Psychologe Jason erforschte die Ursachen für den Sterbewunsch zuletzt systematisch. Seine Erkenntnisse lassen aufhorchen: Den direkten Ausschlag gibt demnach weniger die Krankheitslast – das Ausmass der Schmerzen etwa –, sondern die Stigmatisierung im Umfeld. Fühlen sich Patienten stigmatisiert, hegen sie viermal so häufig Suizidgedanken wie andere ME/CFS-Erkrankte, fand er heraus. Auch die Niederländerin Lauren warnte in ihrem Blog davor, die Erkrankung zu bagatellisieren, indem die manifesten körperlichen Befunde nicht gesehen werden.
Dass es diese bei Long Covid und ME/CFS gibt, wird von Wissenschaftern wie Klinikern kaum noch ernsthaft bestritten. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Mehrheit der ME/CFS-Betroffenen erst einmal gar nicht oder falsch diagnostiziert wird. Gemäss einer neuen Studie müssen Schweizer Patienten im Schnitt elf Ärzte aufsuchen und sieben Jahre warten, bis ihre Erkrankung korrekt erkannt ist.
Keine Pille für alle
Noch sind die genauen Ursachen postinfektiöser Erkrankungen nicht gänzlich verstanden. Doch mittlerweile setzt sich die These durch, dass wohl mehrere Mechanismen eine Rolle spielen – die unterschiedliche Therapieansätze erfordern.
Die eine Pille für alle Betroffenen dürfte es also nicht geben: «Wenn die Krankheit beispielsweise durch eine anhaltende Virusreplikation ausgelöst wird, könnten antivirale Mittel und monoklonale Antikörper die Ursache des Problems beseitigen», meint Yale-Immunologin Iwasaki. «Wenn Auto-Antikörper die Symptome verursachen, kennen wir von Autoimmunerkrankungen hervorragende Medikamente, die für solche Patienten umgewidmet werden können. Wenn eine chronische Entzündung der Auslöser ist, könnten entzündungshemmende Medikamente helfen. Und wenn der Auslöser in der Reaktivierung von Herpesviren liegt, können wir diese mit Antikörpern und antiviralen Mitteln bekämpfen.» Womöglich müssten auch neue Medikamente entwickelt werden.
Nachdem die Therapieforschung jahrzehntelang weitgehend brachgelegen war, nahm sie mit der Aufmerksamkeit für Long Covid etwas Fahrt auf. Weltweit laufen einige Dutzend klinische Studien. Das in Zug ansässige Startup Berlin Cures erprobt mit seinem gegen Auto-Antikörper gerichteten Aptamer BC 007 einen gänzlich neuen Wirkstoffkandidaten, darüber hinaus konzentriert sich die Forschung auf Mittel, die für andere Krankheiten bereits zugelassen sind.
Was heute bereits hilft
Bei der «Unite to Fight»-Konferenz gaben Forscher einen Überblick. Die südafrikanische Physiologin Resia Pretorius berichtete von «grossen Erfolgen» mit Gerinnungshemmern, die an den bei vielen Patienten bemerkten Verklumpungen im Blut sowie an Entzündungen der Endothelzellen in den Blutgefässen ansetzen könnten.
Die ME/CFS-Expertin der Berliner Charité, Carmen Scheibenbogen, äusserte sich erwartungsvoll über die Immunadsorption. Das Verfahren filtert schädliche Auto-Antikörper aus dem Blut, was bei einigen Patienten die Post-exertionelle Malaise zurückdrängte – allerdings nur für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten. Bislang ist keines der Verfahren in der Standardversorgung.
Wie Ärzte ME/CFS-Patienten bereits heute helfen können, zeigt die Versorgungsforscherin Kathryn Hoffmann von der Med-Uni Wien. Mit führenden Wissenschaftern sowie praktizierenden Neurologen, Internisten, Kinderärzten, Psycho- und Physiotherapeuten aus dem deutschsprachigen Raum hat sie in diesem Mai ein «D-A-CH-Konsensusstatement» vorgelegt, das erstmals bewährte Behandlungskonzepte zur Linderung bündelt. Im Zentrum steht das «Pacing»: Die Technik hilft Patienten, mit ihrer Energie zu haushalten. So sollen sie möglichst aktiv bleiben, einen «Crash» aber vermeiden.
Dazu listet das Papier symptomatische Ansätze wie Entspannungstechniken und Melatoninzufuhr für besseren Schlaf und Medikamente im Off-Label-Use, also ohne Zulassung für ME/CFS. Unter den Empfehlungen befinden sich etwa das aus dem Drogenentzug bekannte Low-Dose-Naltrexon (LDN) gegen neurokognitive Beschwerden und Fatigue sowie der Enzymhemmer Mestinon gegen Muskelschwäche und Gleichgewichtsprobleme.
Es ist ein Katalog, der auf Erfahrungswerten beruht und noch nicht auf gesicherter Evidenz beruht. Bis klinisch erprobte Mittel zugelassen sein werden, könnten noch ein paar Jahre vergehen.