Neue Zahlen zeigen: Das integrative Schulsystem ist am Anschlag – weil ein guter Grundsatz auf Teufel komm raus verfolgt wird.
Das Problem der Zürcher Schule lässt sich an einer einzigen Grafik ablesen. Sie zeigt eine Kurve, die links unten beginnt, im Jahr 2004, als es im Kanton noch rund 3000 Sonderschüler gab. Dann steigt die Kurve an. Und steigt. Und steigt.
Heute gibt es in den Zürcher Schulen fast 9000 Kinder mit Sonderschulstatus. Eine regelrechte Explosion. Bei jedem zwanzigsten Schulkind orten die Behörden inzwischen einen besonders hohen Förderbedarf. Ein Anstieg, der mit dem Bevölkerungswachstum nicht ansatzweise erklärbar ist.
Das müsste die Bildungspolitik alarmieren. Kaum etwas ist für die intellektuelle und soziale Entwicklung eines Kindes wichtiger als die Schulzeit – kaum etwas macht Eltern mehr Sorgen als Probleme damit.
Wenn immer mehr Kinder nicht mehr als tragbar für die Regelklasse gelten, dann ist das eine Warnung. Eine Warnung, dass das Schulsystem an seine Grenzen kommt.
Für diese Entwicklung gibt es zwei mögliche Erklärungen. Entweder den Kindern geht es immer schlechter. Oder die Schulen können schwierige Fälle immer weniger auffangen – und wählen darum immer öfter die Sonderschule als letzten Ausweg.
Beide Erklärungen sind besorgniserregend. Beide verlangen entschiedenes Handeln. Doch der Kanton Zürich hat während Jahren das Gegenteil getan. Er hat das Problem als kleiner dargestellt, als es tatsächlich ist – indem er die Statistik verzerrte.
Schulsystem am Anschlag
Das ging so: Statt alle Sonderschüler im Kanton in der Statistik auszuweisen, wurden nur jene an staatlich anerkannten Sonderschulen aufgeführt. Alle Kinder, die in privaten Sonderschulen platziert wurden, blieben ausgeklammert.
Ein Zehntel aller Sonderschüler verschwand so aus den Berechnungen des Kantons. Für das letzte Schuljahr wurden diese Daten nun erstmals erhoben – und prompt zeigte die Sonderschulstatistik noch stärker nach oben.
Die neuen Zahlen zu den privaten Sonderschülern – von der NZZ am Montag publik gemacht – zeigen ein Schulsystem, das in etlichen Gemeinden stärker am Anschlag ist als bisher bekannt. In zwanzig Kommunen gehen über 30 Prozent der Sonderschüler an ein privates Institut. In fünf Gemeinden ist es gar jedes zweite bis dritte Kind mit Sonderschulstatus.
Der integrative Unterricht als Normalfall und staatlich anerkannte Sonderschulen als Ausnahme: Dieses System ist in manchen Gegenden des Kantons einem Flickenteppich aus improvisierten, kaum reglementierten privaten Lösungen gewichen.
Integration in der Krise
Betroffene Gemeinden berichten von zunehmenden Problemen mit verhaltensauffälligen oder psychisch angeschlagenen Kindern. Problemen, die sich im regulären Unterricht nicht mehr bewältigen lassen – egal, wie viele zusätzliche Heilpädagogen in die Klasse geschickt werden. Dazu kommen fehlende oder unflexible staatliche Anbieter in sinnvoller Nähe. Und Eltern, die immer wählerischer werden.
An der Zürcher Goldküste beispielsweise ist der Anteil privater Sonderschüler besonders hoch – auch weil Eltern dort faktisch auswählen können, in welche Sonderschule ihr Kind kommt. Und dabei offensichtlich immer wieder private Anbieter bevorzugen.
Die explosionsartige Zunahme der Sonderschüler und der Boom des privaten Parallelsystems sind damit auch das Resultat eines tieferliegenden Problems, nämlich der Krise der integrativen Schule.
Der Grundsatz, dass jedes Kind wenn immer möglich in einer Regelklasse unterrichtet wird, bleibt ein guter. Bildungsforscher haben immer wieder aufgezeigt, dass die Integration für den schulischen und beruflichen Erfolg der Betroffenen extrem wertvoll ist.
Doch diesen Grundsatz auf Teufel komm raus zu verfolgen, ohne Ausnahmen und Augenmass, führt direkt in die Misere: zu Schulgemeinden, die jeden möglichen Problemfall zur Abklärung schicken – in der Hoffnung, mit dem Sonderschulstatus mehr Ressourcen zu erhalten. Zu einem System aus privaten Sonderschulen, über das wenig bekannt ist.
Und zu Kindern, denen der Unterricht immer häufiger nicht die passende Lernatmosphäre bieten kann.