Immer mehr Menschen reagieren allergisch auf Pollen. Peter Schmid-Grendelmeier von der Universität Zürich erklärt, das liege auch an gestressten Bäumen.
Herr Schmid-Grendelmeier, wie schätzen Sie die Heuschnupfensaison 2024 bis jetzt ein?
Peter Schmid-Grendelmeier: In diesem Jahr hatten wir schon recht früh Baumpollen, weil es mehrere warme Perioden gab. Nun ist es wieder sehr warm, und die ersten Gräserpollen fliegen. Manche Allergiker, die normalerweise erst im Mai oder Juni Symptome spüren, reagieren bereits darauf. Ganz überraschend ist das aber nicht. Wir sehen seit einigen Jahren, dass die Blütezeit aufgrund der wärmeren Temperaturen immer früher beginnt und tendenziell länger andauert.
Seit 2021 gibt es Echtzeitmessungen des Pollenflugs in der Schweiz. Wie gut funktioniert das?
Die Echtzeitdaten bringen einen grossen Vorteil. Früher wurden die gesammelten Pollen von Hand ausgezählt, und man hatte die Daten erst mit etwa einer Woche Verzögerung. Bei der Echtzeitmessung werden in den Messstationen bestimmte Proteine von Blütenpollen automatisch erhoben. Dadurch wissen wir, wie sich der Pollenflug stündlich verändert.
Bei welchen Pollenarten klappt das bereits?
Das gilt nur für wenige Pollenarten. Bei Birkenpollen funktioniert das schon sehr gut, bei den Gräsern tastet man sich gerade an diese neue Messart heran, andere Pollen werden noch immer von Hand von speziell geschultem Personal ausgezählt. Das wird sich mit der Zeit weiter verbessern. Die neue Messmethode ist auch deshalb ein grosser Fortschritt, weil das allergieauslösende Protein ermittelt wird und nicht bloss die Anzahl der Pollen.
Weshalb ist das so wichtig?
Die reine Menge an Pollen sagt wenig darüber aus, wie belastet die Menschen sind. Denn der Anteil an allergieverursachenden Proteinen ist sehr unterschiedlich. Birken, die in der Stadt wachsen, haben zum Beispiel etwa doppelt so viele Allergene wie Birken auf dem Land. Denn das Eiweiss, das für die Allergie verantwortlich ist, ist ein Stressprotein. Der Baum bildet es vermehrt, wenn er zum Beispiel zu wenig Wasser hat, zu viele Abgase abbekommt oder zu wenig Platz hat. Salopp kann man sagen: Die Pollen der Stadtbirke sind aggressiver als die auf dem Land.
Derzeit haben rund 20 Prozent der Schweizer eine Pollenallergie, Tendenz steigend. Entwickeln immer mehr Menschen Heuschnupfen, weil die Pollen aggressiver werden?
Ja, Städter sind eher gefährdet als Menschen auf dem Land. Das liegt nicht nur an den aggressiveren Pollen, sondern auch daran, dass ihre Schleimhäute unter Umständen gereizter sind – zum Beispiel durch Schadstoffe, die wegen des Verkehrs vor allem in Städten in der Luft sind. Es gibt aber auch immer wieder Pflanzen, die neu bei uns wachsen und Allergien auslösen. Dazu gehört etwa Ambrosia.
Wer zum ersten Mal eine allergische Reaktion gegen Pollen hat, könnte meinen, er sei krank. Woran erkennt man eine Allergie?
Bei der Allergie ist das wässrige Nasenfliessen typisch, die Augen sind oft beidseitig rot und jucken. Wenn zusätzlich Husten und Atemnot hinzukommen, ist das ein starkes Zeichen für eine allergische Reaktion. Ein Test beim Arzt kann das bestätigen.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Wenn man sich durch die Beschwerden stark eingeschränkt fühlt. Der erste Schritt ist ja oft, dass man Antihistaminika aus der Apotheke einnimmt.
Diese Medikamente helfen, weil der Körper als Reaktion auf die Allergene in den Pollen den Botenstoff Histamin ausschüttet. Er verursacht die typischen Symptome.
Genau. Antihistaminika blockieren die Histaminrezeptoren im Körper. Dadurch wird die allergische Reaktion abgewendet. Falls die Medikamente aber nicht gut wirken oder man zusätzlich Atemnot hat, lohnt sich der Besuch beim Arzt – schon deshalb, weil stark betroffene Personen eine Desensibilisierung beginnen können. Mit dieser Behandlung will man das Immunsystem aus der Überempfindlichkeit in die Toleranz überführen. Damit beginnt man aber vor der Pollensaison. Die nächste Gelegenheit wäre also dieses Jahr im Herbst.
Immer wieder liest und hört man, eine histaminarme Ernährung beeinflusse die Symptome von Pollenallergikern positiv. Stimmt das?
Es stimmt, dass einige Lebensmittel mehr und andere weniger Histamin enthalten. Beim Heuschnupfen spielt das Histamin in der Ernährung aber eine untergeordnete Rolle. Gegen die wässrig laufende Nase und die juckenden Augen bei einer Pollenallergie hilft eine Ernährungsumstellung nicht.
Und wie können Allergiker die Pollenflugvorhersagen bestmöglich nutzen, um sich zu schützen?
Ich würde nicht gerade die Velotour mit Zeltübernachtung planen, wenn die Pollen angesagt sind, auf die ich reagiere. Zudem können sich Betroffene zum Beispiel angewöhnen, sich mit Blick auf den Pollenflugkalender die Haare am Abend auszubürsten und draussen eine Sonnenbrille zu tragen, um sich vor Pollen zu schützen. Es hilft auch, in der Pollensaison stets eine Packung Antihistaminika mitzuführen.
Sollte man die Medikamente schon einnehmen, wenn das Pollenradar nur einen leichten Pollenflug anzeigt?
Wenn man erste Symptome spürt, ist es sinnvoll zu beginnen und die Medikamente bei Pollenflug regelmässig einzunehmen.
Pollendaten in Echtzeit
Das Allergiezentrum Schweiz bietet unter pollenundallergie.ch Pollendaten in Echtzeit sowie eine Prognose. Unter aha.ch gibt das Allergiezentrum einen Überblick über Heuschnupfen und andere Allergien sowie Tipps für den Umgang mit den Beschwerden.
Sie untersuchen derzeit, wie hoch während der Pollensaison der Gehalt an Antihistaminika im Abwasser ist. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Das ist ein gemeinsames Projekt mit den Spezialisten des Schweizer Wasserforschungsinstituts (Eawag). Noch haben wir die Ergebnisse nicht veröffentlicht, ich kann aber schon sagen: Jeweils einige Stunden nach dem Pollenflug haben wir einen stark erhöhten Gehalt an Antihistaminika festgestellt, die über den Urin ins Abwasser gelangen. Man kann schon fast den Pollenflug über die Antihistaminika im Abwasser ablesen. Wir haben auch beobachtet, dass es zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt einen Gipfel von Antihistaminika im Abwasser gab, den wir uns noch nicht erklären können.
Das heisst, Sie können den erhöhten Gehalt keiner Pollenart zuordnen?
Genau. Wir wissen gar nicht, was zu dem Zeitpunkt bei vielen Menschen eine Allergie auslösen könnte. Erle und Hasel hatten noch keinen Pollenflug, und Birkenpollen waren noch nicht messbar. Eventuell gibt es eine Baumart, die wir bis jetzt noch gar nicht als allergieauslösend auf dem Radar haben.