Jim Jarmusch erhält in Venedig überraschend den Goldenen Löwen – mit einem Episodenfilm über Familiendynamiken, der eher museal als meisterhaft wirkt. Die Entscheidung der Jury ist zum zweiten Mal in Folge rückwärtsgewandt.
Selbst der Regisseur Jim Jarmusch zeigte sich überrascht, als sein «kleiner Film» unerwartet den Hauptpreis errang: Mit der Verleihung des Goldenen Löwen an «Father Mother Sister Brother» gingen die 82. Internationalen Filmfestspiele von Venedig am Samstagabend zu Ende. Auch die Kritikerspiegel legten diese Wahl nicht nahe, im Gegenteil.
Vermutet wurde ein Sieg von «The Voice of Hind Rajab», der bei seiner Premiere mehr als 20 Minuten lang Standing Ovations und später den Grand Prix der Jury erhielt. Das auf einem wahren Fall beruhende Drama von Kaouther Ben Hania emotionalisiert den dramatisch scheiternden Rettungsversuch eines in einem Auto eingeschlossenen Mädchens in Gaza. Und setzt Israel ebenso einseitig und kontextlos auf die Anklagebank, wie es die Tausende von «Pro Palästina»-Demonstranten taten, die am ersten Festivalwochenende lärmend über den Lido zogen.
Zwei grosse Verlierer
Auch Kathryn Bigelows atemloser Atomraketen-Thriller «A House of Dynamite» kam bei der Kritik hervorragend an – und wäre ein unangenehm gegenwärtiger Gewinner gewesen. Chancen hatte sich zudem Park Chan-wook mit seiner Kapitalismusfarce «No Other Choice» ausgerechnet, die von Südkorea ins Oscar-Rennen geschickt wird. Beide wurden gefeiert, beide gingen leer aus.
Nun ist es meistens so, dass die Entscheide von Jurys und die Lieblinge von Journalisten zwei unterschiedliche Paar Stiefel sind. Die Mitglieder der Jury, in diesem Jahr angeführt vom klugen Regisseur Alexander Payne («Nebraska»), der zwar ausgesprochen cinephil ist, aber wenig angetan vom Gegenwartskino, richten sich nicht an medialen Massstäben aus. Das ist völlig in Ordnung, von solchen Spannungsverhältnissen lebt der Diskurs über das Kino, sie halten ihn überhaupt erst lebendig.
Doch der Entscheid, mit Jarmusch im zweiten Jahr in Folge einen am Lido noch nie zuvor prämierten Altmeister auszuzeichnen, irritiert. 2024 gewann der Spanier Pedro Almodóvar mit seinem ästhetisch durchgestylten, doch enervierend oberflächlichen Sterbehilfe-Drama «The Room Next Door». Nun folgt Jarmusch mit «Father Mother Sister Brother», einer episodenhaften Betrachtung über die Dysfunktionalität familiärer Beziehungen, die in ihrer Sprachlosigkeit feststecken.
Hohle, nostalgische Verschnarchtheit
Ein Ensemble von Stars kämpft vergeblich gegen das dröge Drehbuch an: In der ersten Geschichte fahren Bruder und Schwester (Adam Driver und Mayim Bialik) zu ihrem vermeintlich heruntergerockten Vater (Tom Waits). Sie hocken ebenso stumm und verloren am Tisch wie später Vicky Krieps und Cate Blanchett bei Charlotte Rampling. Und am Schluss besichtigt ein Zwillingspaar (Indya Moore und Luka Sabbat) die Pariser Wohnung der gestorbenen Eltern, die so leer ist wie der ganze Film.
Diese Art von unspektakulärer Lakonie, die immer wieder Lacher produziert, ist ein Markenzeichen von Jarmusch. Früher mag das funktioniert haben, diese langen, unangenehmen Pausen, die Figuren, für die man sich ein bisschen fremdschämt und ein bisschen Sympathie empfindet. Doch jetzt wirkt seine Familienaufstellung unerträglich in ihrer hohlen, nostalgischen Verschnarchtheit.
In der Pressekonferenz zum Film wurde Jarmusch nach seiner Haltung zum mitproduzierenden Streamingdienst Mubi gefragt. Dieser steht in der Kritik wegen seiner Verbindungen zu einem israelischen Militär-Startup. Die Indie-Ikone schimpfte dann, dass Geld von Unternehmen per se immer schmutzig sei. Genommen hat er es natürlich trotzdem, was bleibt ihm auch anderes übrig. Ähnlich geradlinig laufen die Gedankengänge im Film ab.
«Wie alt ist dein Sohn?» – «13» – «Hmm, schön.» Es sind Dialoge, die einer KI zu banal wären. Und Kameraeinstellungen, so statisch wie bei einer Sitcom. Eingestreut sind Running Gags, wie die Frage, ob man mit Wasser anstossen darf. Und in jeder Episode tauchen in Zeitlupe Skateboarder auf, die «ja jetzt plötzlich überall sind», wie eine Figur feststellt. Man fragt sich, wo Jarmusch die letzten dreissig Jahre abgetaucht ist.
Die Glanzzeiten verschlafen
«Father Mother Sister Brother» ist schlimmstes Boomer-Kino. Und leider eine weitere Bestätigung für Quentin Tarantinos Verdikt, dass die Spätwerke von Regisseuren nur in seltenen Fällen etwas taugen. Ähnlich wie bei Almodóvar im Vorjahr hat man das Gefühl, die Jury in Venedig wirft jemandem im Alter noch einen Preis hinterher, weil man die Glanzzeiten des Geehrten schlicht verschlafen hat.
21 Filme liefen im Wettbewerb, darin hätte man sicherlich etwas finden können, was mehr Gegenwärtigkeit ausstrahlt. Immerhin, für die Jungen und auch für die Schweiz gab es eine positive Nachricht an diesem Abend: Die Zürcherin Luna Wedler erhielt den Marcello Mastroianni Award, die Auszeichnung für das beste Schauspieltalent.