Nicolas Mathieu schreit in seinen Texten an eine Geliebte die Radikalität der Empfindungen heraus. Eine Beruhigung durch die Fiktion soll es nicht geben.
Verfällt nun also auch Nicolas Mathieu der Autofiktion? Noch vor drei Jahren legte der Prix-Goncourt-Preisträger mit «Connemara» einen grossen Roman vor, der von einer aus der Provinz nach Paris ausbrechenden und bald desillusionierten Frau handelte. Eingebettet war ihre Geschichte in ein von Krisen und Klassengegensätzen aufgeriebenes Frankreich. Mit dem schmalen Band «Jede Sekunde», der keine Gattungsbezeichnung trägt, wagt sich Mathieu auf ein ganz anderes Terrain.
Grundlage der meist nur kurze Absätze umfassenden Texte sind Instagram-Posts, mit denen sich Mathieu ab 2018 in das «Chaos der sozialen Netze» begab. Vor aller Augen schrieb er «Nachrichten, die nur an eine einzige Person adressiert waren». Sie berichteten von einer mehrere Jahre andauernden Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau. Die Affäre verlangte nach Öffentlichkeit, nach «Zeugen», brauchte offenkundig einen Resonanzboden, um der Verzweiflung vorzubeugen.
Intensität einmaliger Liebesmomente
Die deutsche Ausgabe dieser teils lauthals, teils leise-melancholisch vorgetragenen Statements verändert nicht nur den Titel des Originals «Le ciel ouvert» erheblich, sondern verzichtet auch auf die grellbunten Illustrationen Aline Zalkos – warum, das hätte man gern gewusst.
Bereits der Einstieg setzt mit einem Motiv ein, das sich im Autobiografismus der französischen Gegenwartsliteratur häufig findet. Auf den Anfang von Philippe Sollers’ berühmten Roman «Femmes» anspielend, äussert Mathieu ein vehementes «Unbehagen an der Fiktion». Die Literatur, heisst es da, könne mit ihren «einbalsamierenden Nacherzählungen» nichts ausrichten. Sie versage, wenn sie glaube, die Intensität einmaliger Liebesmomente adäquat wiederzugeben: «Die Literatur weiss nichts über deine Bewegungen, dein Lachen, den Flaum auf deinen Schenkeln, die erstarren, sobald sie erzählt werden.»
Dieser in der Weltliteratur so oft beschworene Unsagbarkeitstopos bildet ein starkes Entrée. Eine Beruhigung durch die Fiktion soll es nicht geben, die Radikalität der Empfindungen soll herausgeschrien werden. «Jede Sekunde» ist das Zeugnis eines klassischen Ehebruchs, der auf heimliche Telefonate und Kurznachrichten angewiesen ist, der in Hotelzimmern ausgelebt wird und auf keine gemeinsame Zukunft zusteuert. In einer Prosa, die mitunter wie ein überschäumendes Langgedicht einherkommt, beschwört Mathieus Ich-Erzähler einen Zustand, in dem die Geliebte einmal nah, einmal fern ist und die Eifersucht, der Zorn auf den «anderen» walten. Zwischen den Stunden des Wiedersehens erstrecken sich quälende Phasen des Wartens, voller Vorahnung, dass das Ende der Beziehung bevorstehe. Das Herz bleibt «im Schraubstock», der «Stacheldraht in der Brust».
Eingebunden in diesen Versuch, die klandestine Liebe am Leben zu erhalten, indem man über sie spricht, sie deklamatorisch anruft, sind Erinnerungen an gemeinsame Stunden, an sexuelle Ausbrüche, von denen niemand wissen darf. Angesichts dieser Erfahrungen, die die Doppelmoral bürgerlicher Seitensprünge spiegeln und gleichzeitig einen Bruch mit allen Konventionen fordern, beginnt der Erzähler über sein Leben als Schriftsteller zu räsonieren: Über seine Rolle als Vater, über den Tod seines eigenen Vaters, zugleich über die Gewissheit, nach Erreichen des vierzigsten Lebensjahrs sich mehr und mehr den Verlust vieler Illusionen eingestehen zu müssen.
Steigerung der Emotionen über Social Media
«Jede Sekunde» ist gewissermassen ein ungeschützter Text, der überall offene Flanken zeigt. Wer sich derart zur Schau stellt, gibt seine Verletzlichkeit preis, hofft, seine Emotionen gerade dadurch zu steigern. Man kann sich darüber mokieren, dass der Erzähler keine Scheu vor Selbstmitleid hat, seine Unfähigkeit beklagt, erwachsen zu handeln, und eine unerfüllbare Sehnsucht äussert, auch den Alltag mit der Geliebten zu teilen. Doch weil Mathieu einen so hohen, poetisch riskanten wie eindringlichen Ton anschlägt und Sentimentalitäten selbst reflektiert, folgt man dieser Wut- und Liebesrede mit wachsender Neugier.
«Diese Texte», heisst es am Ende, «sind auch Teil des Krieges, den ich seit meiner Jugend gegen den Lauf der Dinge führe, indem ich die Uhr anhalte und den stetig strömenden höllischen Fluss der Gefühle, Eindrücke und Bilder in Worte fasse.» So geht es in «Jede Sekunde» darum, sich «über Wasser zu halten und die anrollende letzte Welle ein wenig hinauszuzögern». Die Texte sind ein Aufbegehren gegen den Tod, wenn alle Erinnerungen an die geliebte Frau ausgelöscht sein werden. Ob sich das in der Fiktion, als Roman niederschlägt oder als autobiografisches Bekenntnis, das spielt letzten Endes keine Rolle mehr.
Nicolas Mathieu: Jede Sekunde. Aus dem Französischen von André Hansen und Lena Müller. Hanser-Verlag, Berlin 2025. 94 S., Fr. 29.90.