Der Ständerat will, dass Morde nicht mehr verjähren sollen. Der Cold-Case-Experte Karsten Bettels erklärt, wie Delikte auch nach Jahrzehnten aufgeklärt werden können.
Herr Bettels, in der Schweiz wird darüber diskutiert, die Verjährungsfrist für Mord von 30 Jahren aufzuheben. Lassen sich Kapitalverbrechen nach so langer Zeit überhaupt noch aufklären?
Natürlich – ich sehe keinen Grund, weshalb das nach 29 Jahren noch möglich sein soll, aber nach 31 Jahren nicht mehr. Die Wahrscheinlichkeit wird kleiner, aber es wird immer Fälle geben, die auch nach langer Zeit geklärt werden.
Sie analysieren mit Studierenden der Polizeiakademie Niedersachsen und internationalen Partneruniversitäten Cold-Case-Fälle. Gibt es einen Fall, mit welchem Sie Erfolg hatten?
Wenn Sie fragen, ob wir schon den Namen eines Täters in den Akten fanden, den die Justiz übersehen hatte, dann nein. So einfach ist das nicht. Wir analysieren den Aktenbestand, suchen nach Widersprüchen und Zusammenhängen und lassen neue forensische Methoden einfliessen. Das soll die Ermittler einen Schritt näher zur Lösung bringen. Und ich kann sagen: Wir hatten noch keinen Fall, bei dem dies nicht gelungen ist.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Bei den Ermittlungen zu einem Sexualmord in den 1980er Jahren spielte ein heller Golf eine zentrale Rolle. Wir haben festgestellt, dass verschiedene Ermittlungsteams «hell» unterschiedlich interpretiert haben. Als Folge davon wurden Alibis unterschiedlich überprüft und nicht alle Spuren mit gleicher Intensität verfolgt. Hier ergaben sich neue Ermittlungsansätze.
Wenn dies nicht zum Täter führt, nützt es aber nichts . . .
Wir wissen nicht vorher, ob unsere Erkenntnisse zur Aufklärung beitragen können. Es gibt fast jedes Jahr Cold Cases, bei denen solche kleinen Erkenntnisse schliesslich zum Täter führen.
Nennen Sie uns ein Beispiel!
Vor kurzem wurde im Ruhrgebiet ein Mann wegen eines Mordes aus Habgier verurteilt, der schon 34 Jahre zurückliegt. 1991 wurde ein Friseur erdrosselt aufgefunden. 2024 überprüfte eine Gruppe aus aktiven und pensionierten Ermittlern vorhandene Spuren mit aktuellen nationalen und internationalen Datenbanken. Ein Abgleich von DNA und Fingerabdrücken ergab prompt einen Treffer in Polen. Das führte zur Identifikation eines 62-jährigen Mannes, der zur Tatzeit 29 war.
Die Existenz von DNA-Spuren allein beweist noch nichts.
Da haben Sie recht, aber es ergeben sich daraus neue Ermittlungsansätze. Ich erinnere mich an einen Fall, der gut zeigt, wie Cold Cases aufgeklärt werden. 1987 wurde in Osnabrück die 9-jährige Christina Spiegel ermordet. Der Fall bewegte ganz Deutschland, aber die Tat wurde nicht geklärt. Erst 2013 wurde an alten Spuren mit neuer Technik eine DNA-Spur gefunden, über die der Täter identifiziert wurde. Parallel ging über «Aktenzeichen XY» ein Hinweis auf dieselbe Person ein. Der Mann war schon in den 1980er Jahren im Visier der Ermittler, hatte aber ein Alibi. Nun wurde dieses viel genauer geprüft und erwies sich prompt als falsch. Der damals 19-jährige Täter gestand die Tat.
Weshalb werden manche Tötungsdelikte nicht aufgeklärt?
Viele Ermittlungsmethoden waren ganz einfach nicht bekannt – ich habe die DNA-Analyse und die internationalen Vernetzungen bereits genannt. Doch der Hauptgrund ist wohl ein anderer: Viele Tötungsdelikte werden gar nicht als solche erkannt. Entweder weil das Opfer vermisst wird und nicht klar ist, was passiert ist. Oder weil sich aus der Situation nicht sogleich ergibt, dass jemand durch Fremdeinwirkung gestorben ist. Nicht alle Leichen liegen schliesslich mit einem Messer im Rücken vor Ihnen. Wenn da nicht in den ersten Stunden und Tagen Spuren gegen Vernichtung gesichert werden, wird es hart.
Je länger eine Tat zurückliegt, desto schwieriger wird ihre Aufklärung. Was sind Aussagen von Zeugen zu Ereignissen, die 30 Jahre zurückliegen, überhaupt noch wert?
Natürlich verblasst die Erinnerung, und vielleicht sind nicht alle Zeugenaussagen nach Jahren noch hilfreich. Doch gewisse Dinge vergisst man nicht. Vor ein paar Jahren wurde ein Fall aus dem Jahre 1984 aufgeklärt, weil sich eine Zeugin und ein inzwischen in Kanada lebender Verwandter nach einem Beitrag bei «Aktenzeichen XY» wieder an ein eigenartiges Gespräch über den Mord erinnert haben. Es lag über 40 Jahre zurück.
Warum hat sie sich nicht schon damals bei der Polizei gemeldet?
Weil das Gespräch für sich alleine nicht verdächtig war. Aber als sie 2017 im Fernsehen einen Beitrag über den Fall sah, realisierte sie die Bedeutung des Gesprächs. Es ging um einen Angler, der 1984 mit schweren Kopfverletzungen und ausgeraubt aufgefunden wurde. Der sogenannte Angler-Mord konnte bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgeklärt werden. Die neuen Zeugenaussagen zeigten, dass der Mann damals Dinge gesagt hatte, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht hätte wissen können. Bevor ein Revisionsprozess abgeschlossen war, verstarb der Verdächtige allerdings.
In der Schweiz hat der sogenannte Kristallhöhlen-Mord zur Diskussion über die Verjährung geführt. 1982 verschwanden zwei jugendliche Mädchen, die neun Wochen später tot aufgefunden wurden. Es fanden sich keine Spuren, die zu einem eindeutigen Verdächtigen führten. Wie würden Sie vorgehen?
Ich kenne den Fall nicht im Detail, und ich will keine Ferndiagnose vornehmen. Das Vorgehen ist für uns aber immer ähnlich: Zunächst lesen wir den gesamten Aktenbestand und bewerten ihn neu. In einem strukturierten Verfahren überprüfen wir dann sämtliche Spuren und Ermittlungsergebnisse darauf, ob sich Widersprüche oder neue Zusammenhänge finden. Ich schliesse nicht aus, dass der Kristallhöhlen-Mord noch geklärt werden könnte. Da die Schweiz eine Verjährungsfrist kennt, wird es allerdings schwierig. Viele Asservate sind deswegen wohl vernichtet.
Die Vorgehensweise, die Sie hier beschreiben, sollte die Polizei ja aber eigentlich von Anfang an verfolgen . . .
Ja – weshalb wartet man damit über 30 Jahre? Diese Frage kann man sich stellen. Sie ist mit ein Grund dafür, dass ich mich mit Studierenden mit Cold Cases befasse: Sie sollen dafür sensibilisiert werden, worauf es bei den Ermittlungen ankommt. Und dass man von Anfang an nichts verpassen darf, was man später vielleicht nicht mehr nachholen kann. Aber ich will da keine Kollegenschelte betreiben: Gewisse Methoden kannten die Ermittler von damals einfach auch nicht – und es kommen auch heute immer neue hinzu.
Abgesehen von den DNA-Spuren: Woran denken Sie?
Ein Beispiel ist die forensische investigative genetische Genealogie (FIGG). Dabei wird ein Täter-DNA-Profil vom Tatort mit Einträgen in einer Ahnenforschungs-Datenbank abgeglichen. So können entfernte Verwandte der gesuchten Person gefunden werden. Anschliessend werden mithilfe von Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden Familienstammbäume rekonstruiert. Der Täter wird so langsam eingegrenzt. Die Methode eignet sich auch für die Identifizierung von unbekannten Opfern oder zur Entdeckung von Fehlurteilen.
Konnten so schon Fälle aufgeklärt werden?
In Deutschland ist die FIGG für die Analyse der Täter-DNA rechtlich nicht zulässig. In den USA konnte so aber ein Serienkiller gefunden werden, der in den 1970er und 1980er Jahren mindestens 13 Morde und 50 Vergewaltigungen begangen hatte. Und es gibt weitere Ermittlungsmethoden, die uns neue Möglichkeiten geben werden.
Welche?
Australische Forscher arbeiten zum Beispiel an einem Verfahren, bei dem bei Sexualdelikten Täter mithilfe übertragener Bakterien auch ohne DNA überführt werden können. Oder der Einsatz von 3-D-Technik und Drohnen: Damit können Tatorte neu vermessen werden. In einem Fall, den wir selber untersucht haben, sind wir gestützt darauf zu dem Schluss gekommen, dass bei den Ermittlungen im Jahre 1983 ein bestimmter Tathergang frühzeitig verworfen wurde. Diese Spur kann wieder aufgenommen werden. Und auch die künstliche Intelligenz wird uns in Zukunft weiterhelfen.
Inwiefern?
Die Akten von Tötungsdelikten können Zehntausende von Seiten umfassen. Die Analyse kann mit künstlicher Intelligenz nicht nur viel schneller, sondern deutlich vielschichtiger erfolgen. Dazu gehört es auch, semantische Zusammenhänge in den Akten zu erkennen. Und ähnlich wie bei Chat-GPT können Fragen zu den Akten gestellt werden. Ausserdem können mögliche Verbindungen zwischen verschiedenen Taten gefunden werden, auch wenn sie zeitlich und geografisch weit auseinanderliegen.
Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll ist, Tötungsdelikte nach Jahrzehnten definitiv abzuschliessen und verjähren zu lassen.
Dass neue Ermittlungsmethoden neue Spuren zutage fördern, habe ich Ihnen ja aufgezeigt. Das beobachten wir ja derzeit gerade intensiv. Cold Cases erleben extrem viel Aufmerksamkeit. Die Frage ist nur, wer solchen Hinweisen nachgehen soll, wenn es die Polizei nicht mehr tut, weil der Fall nicht priorisiert ist oder wie in der Schweiz die Verjährung eintritt. Ist es besser, wenn das die Medien übernehmen? Oder sollen es die Angehörigen selbst tun, so wie in einem Fall aus Baden-Württemberg, bei dem die Tochter nach über 30 Jahren selber auf die Suche nach dem Mörder ihrer Mutter geht, weil sie sich alleingelassen fühlt? Das darf doch nicht sein!
Zeigen die Fälle aber nicht auch, dass der Verzicht auf die Verjährung mit möglicherweise unrealistischen Hoffnungen verbunden ist?
Mir geht es darum, dass die Opfer und ihre Hinterbliebenen nicht vergessen werden. Man muss sich bewusst sein: Es sind in der Regel mindestens drei Generationen unmittelbar von einem Tötungsdelikt betroffen: die Eltern, die Geschwister und die Kinder oder sogar die Enkelkinder der Opfer. All diese Menschen beschäftigt ein ungeklärter Mord während Jahrzehnten, vielleicht bis zu ihrem eigenen Tod. Wenn diese Leute nicht zur Ruhe kommen, dürfen es Justiz und Täter auch nicht. Deshalb ist für mich die Bearbeitung von Cold Cases zentrale kriminalpolitische Aufgabe eines Rechtsstaates.
Tatsache ist, dass viele Fälle wieder aufgerollt, aber nicht geklärt werden können oder es nicht zu einer Verurteilung kommt. Reisst man da nicht alte Wunden auf?
Meine Erfahrung ist eine andere: Vielen Angehörigen geht es gar nicht nur darum, dass der Täter endlich hinter Schloss und Riegel sitzt. Sie wollen wissen, was geschehen ist, und dieses Bedürfnis verschwindet nicht. Alles, was Licht ins Dunkel bringt, hilft dabei. Die Aufgabe der Cold-Case-Analyse ist es deshalb, sich Schritt für Schritt der Wahrheit zu nähern. Das Leben ist das höchste Rechtsgut – der Staat darf hier nichts unversucht lassen. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Für die meisten Angehörigen von Mordopfern ist es schon ein Erfolg, wenn ihr Fall nicht vergessen wird.
Weshalb kennt Deutschland eigentlich bei Mord keine Verjährung, während dies in anderen Ländern der Fall ist?
Diese Verjährungsbestimmung wurde auch in Deutschland im Jahr 1979 endgültig abgeschafft. Nach dem Zweiten Weltkrieg, der von den Verbrechen der Nazis geprägt war, wollte man sicherstellen, dass auch Mord niemals ungestraft bleibt. Der historische Hintergrund spricht für mich aber nicht dagegen, die Verjährung bei Mord auch in anderen Ländern abzuschaffen.
Die Ermittlungsmethoden werden immer besser, es gibt kaum einen Tatort, bei dem es nicht zu einer Vielzahl von Spuren kommt. Wird es in Zukunft überhaupt Cold Cases geben?
Es wird für die Täter zwar schwieriger, unentdeckt zu bleiben. Vor allem bei Fällen, die als Tötungsdelikte erkannt werden, wird die Aufklärungsrate möglicherweise noch steigen. Aber sie wird nie bei hundert Prozent liegen. Zudem bleiben alle Vermisstenfälle. Deshalb: Ja, es wird auch in Zukunft Cold Cases geben.
Und Sie – weshalb lässt Sie das Thema auch nach der Pensionierung nicht los?
Weil die Gesellschaft nicht akzeptieren darf, dass Tötungsdelikte ungeklärt bleiben. Die Studierenden sollen aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, wie man in der Ermittlungsarbeit vorgehen muss, um zukünftig Cold Cases zu verhindern. Es geht um eine Investition in die Zukunft. Kein Opfer eines Tötungsdelikts hat Einfluss auf die Qualität und Quantität seiner Ermittlungsakte.
Wenn Sie selbst in die Täterperspektive wechseln und den perfekten Mord planen müssten: Worauf würden Sie achten?
Sie werden es mir nachsehen, wenn ich hier keine Hilfeleistung anbieten will. Und ehrlicherweise muss man sagen: Das ginge auch gar nicht. Sogar wenn eine Tat noch so gut geplant ist: Jeder macht Fehler. Es gibt Dinge, die sich nicht beeinflussen lassen oder die anders laufen als vorhergesehen. Es gibt höchstens eine Sache, auf die ich achten würde.
Verraten Sie sie?
Ich würde mir die Strafprozessregeln der einzelnen Länder sehr genau anschauen: Welche Ermittlungsmethoden sind erlaubt, was darf die Polizei tun, was sie anderenorts nicht darf? Ich habe vorher die forensische investigative genetische Genealogie genannt, die in Deutschland verboten ist. Wenn Sie sich über solche Dinge informieren, könnten Sie Ihre Chancen, unentdeckt zu bleiben, allenfalls steigern. Ihre Frage nach der Täterperspektive ist aber aus einem anderen Grund völlig berechtigt.
Weshalb?
Indem Ermittler versuchen, sich in den Täter hineinzuversetzen, können sie besser verstehen, warum bestimmte Spuren am Tatort zu finden sind und welche Entscheidungen der Täter getroffen hat. Keatley’s Winthropping heisst die Methode, die im Moment gerade für viel Aufmerksamkeit sorgt. Sie hat nicht mit Forensik, sondern mit Kriminologie und Psychologie zu tun. Man denkt dabei quasi rückwärts: Warum hat der Täter genau hier eine Leiche abgelegt? Und es ist eben kein Zufall, dass es dort geschah. Diese Methode kann helfen, typische Verhaltensweisen des Täters zu erkennen, Verdächtige einzugrenzen und gezielt nach weiteren Beweisen zu suchen.
Karsten Bettels ist Kriminaldirektor a. D. und hat mehrere Mordkommissionen geleitet. Heute leitet er das International Cold Case Analysis Project (ICCAP) und analysiert mit Studierenden der Polizeiakademie Niedersachsen ungeklärte Tötungsdelikte.