Die Börsen fiebern der ersten Zinssenkung des Fed entgegen, gleichzeitig mehren sich die Signale eines drohenden Abschwungs. Doch was bedeutet eine Rezession für die Aktienmärkte? Und was folgt danach?
Der Wind hat gedreht.
Während Monaten galt für die Finanzmärkte die Devise Bad News are Good News: Nachrichten, wonach sich die Wirtschaft abkühlt, wurden positiv aufgenommen. Denn damit stand die Hoffnung in Verbindung, dass die US-Notenbank (Fed) den Kampf gegen die Inflation für beendet erklären und erste Zinssenkungen einleiten kann.
Doch im Verlauf der vergangenen rund drei Monate hat sich unter den Marktteilnehmern eine neue Reaktionsfunktion eingestellt. Bad News sind nicht mehr Good News. Die Aktienkurse reagieren überaus empfindlich auf kleinste negative Überraschungen in den Konjunkturdaten. Der am Dienstag publizierte ISM-Einkaufsmanagerindex des US-Industriesektors verharrte im August mit 47,2 deutlich in der Kontraktionszone und nur leicht über den enttäuschenden 46,8 des Vormonats. Ökonomen hatten im Durchschnitt mit einer marginal stärkeren Erholung gerechnet.
Das reichte bereits, um eine weitere Verkaufswelle zu provozieren.
Der heute Freitag publizierte Arbeitsmarktbericht vermochte die Gemüter nur bedingt zu beruhigen. Im August hat die US-Wirtschaft 142’000 neue Stellen geschaffen. Ökonomen hatten im Vorfeld mit 160’000 gerechnet. Zudem musste das Bureau of Labor Statistics die Zahl der in den Monaten Juni und Juli neu geschaffenen Stellen um insgesamt 86’000 senken. Immerhin ist die Arbeitslosenquote minimal auf 4,2% gesunken, nach 4,3% im Vormonat.
Nach dem leicht schwächer als erwartet ausgefallenen Arbeitsmarktbericht gehen die Terminmärkte mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 50% davon aus, dass der Offenmarktausschuss des Fed an seiner nächsten Sitzung vom 18. September den Leitzins gleich mit einem «Doppelschritt» von 50 Basispunkten auf 4,75 bis 5% senken wird.
An den Märkten steigt die Furcht vor einer Rezession – und das nicht zum ersten Mal: Bereits im Herbst 2022 sowie Ende 2023 mussten sich Investoren mit dem Szenario einer harten Landung der US-Wirtschaft auseinandersetzen. Beide Male stellte sich die Sorge als verfrüht heraus.
Ist es dieses Mal, im Herbst 2024, anders? Und was hätte das für die Aktienmärkte zu bedeuten? «The Big Picture» versucht, ein Drehbuch für die kommenden, möglicherweise turbulenten Monate zu liefern.
«Der beste Ökonom, den ich kenne, sitzt im Inneren des Aktienmarktes.»
Stanley Druckenmiller, amerik. Investor (*1953)
Unter der Oberfläche der breiten Indizes findet derzeit eine wichtige Verschiebung statt. Im Zeitraum seit Mitte Juli fallen im Weltindex von MSCI Aktien aus den defensiven, als konjunkturresistent geltenden Sektoren Versorger, Basiskonsum und Gesundheit mit deutlichen Gewinnen auf.
Schwach schneiden dagegen die besonders konjunktursensitiven Sektoren Energie, Grundstoffe (Materials) und zyklischer Konsum sowie die vormaligen Investorenlieblinge Kommunikation (u.a. Alphabet, Meta) und Informationstechnologie ab. Innerhalb des IT-Sektors fällt die Halbleiterbranche mit ihrem Zugpferd Nvidia mit Einbussen auf. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Branche ihre Führungsrolle an den Börsen eingebüsst hat und Luft aus der Blase rund um das Thema künstliche Intelligenz entweicht.
Augenfällig ist der Vergleich im S&P 500 zwischen den Sektoren Basiskonsum (Consumer Staples) und zyklischer Konsum (Consumer Discretionary). In Ersterem finden sich Titel wie Walmart, Costco, Coca-Cola und Philip Morris, der Discretionary-Sektor wird von Titeln wie Tesla, Amazon, Nike und Starbucks dominiert. In der relativen Betrachtung zeigen die zyklischen Konsumwerte seit Mitte Juli eine markant schwächere Performance als ihre defensiven Pendants.
Heisst das, eine Rezession in den USA wird von den Aktienmärkten bereits als so gut wie sicher betrachtet? Nein. Weiterhin beeindruckend stark hält sich beispielsweise der ebenfalls zyklische Industriesektor, was gegen einen harten Abschwung spricht.
Weiterhin kein Gefahrensignal sendet zudem der Markt für riskante Unternehmensanleihen. Der Risikoaufschlag (Spread) von Anleihen ohne Anlagequalität («High Yield»- oder «Junk»-Bonds) liegt in den USA mit rund 3% auf einem geradezu sorglosen Niveau (blaue Kurve).
Die solide Performance des Finanzsektors (Banken und Versicherungen) dürfte sich derweil am ehesten mit der Erwartung der Märkte auf eine steilere Zinsstrukturkurve erklären lassen. Diesbezüglich steht der Bondmarkt derzeit an einer wichtigen Wegmarke: In Erwartung baldiger und deutlicher Zinssenkungen durch das Fed ist die Rendite zweijähriger Treasury Notes seit Mitte Juli um mehr als 70 Basispunkte (Bp) auf 3,75% gefallen. Die Rendite zehnjähriger Treasuries hat sich im gleichen Zeitraum «nur» um gut 40 Bp ermässigt.
Damit liegen die kurz- und langfristigen Zinsen gleichauf, was bedeutet, dass die Zinskurve im Begriff ist, aus ihrer mehr als zwei Jahre dauernden Inversion zu treten. Bei diesem Bild – wenn die kurzfristigen Zinsen rascher sinken als die langfristigen – handelt es sich um einen sogenannten Bull Steepener, und das war in früheren Zyklen jeweils ein Signal einer bevorstehenden Rezession.
Es sind also auf der einen Seite deutliche Signale zu erkennen, dass sich die Finanzmärkte auf einen konjunkturellen Abschwung einstellen: Aktien aus defensiven Sektoren werden gesucht, zyklische Sektoren leiden, und der Bondmarkt zeigt Ansätze eines Bull Steepener.
Andere Indikatoren wie der Markt für riskante Unternehmensanleihen sowie die Stärke des Industrie- und des Finanzsektors sprechen dagegen weiterhin für einen glimpflichen Ausgang, eine sanfte Landung.
Aber wie relevant ist die Frage überhaupt, ob die US-Wirtschaft in eine Rezession fällt oder nicht?
In der kurzen Frist: sehr.
In der langen Frist: kaum. Wer langfristig disponiert, könnte im Szenario einer Rezession nämlich hervorragende Kaufgelegenheiten für die Themen erhalten, die den folgenden Aufschwung dominieren werden.
Aber blicken wir zunächst auf die kurze Frist.
Mit einem Stand von 5500 liegt der S&P 500 derzeit nur gerade 3% unter seinem Mitte Juli erreichten Allzeithoch. Die Analysten erwarten für den Zeitraum der kommenden zwölf Monate von den fünfhundert Unternehmen im Index einen Gewinn von 266 $ je Aktie. Auf dieser Basis ist der amerikanische Leitindex mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 20,7 bewertet.
Das ist ein stolzer Wert, zumal die Analysten immer noch überaus optimistisch sind und ihre Gewinnschätzungen trotz eines möglichen Abschwungs noch nicht reduziert haben – ganz im Unterschied zur zweiten Jahreshälfte 2022, als sie ihre Gewinnschätzungen von knapp 240 auf unter 225 $ gesenkt hatten.
Damit ist der Index «priced for perfection». Er weist eine beträchtliche Fallhöhe auf, denn in einer Rezession sinken normalerweise die Unternehmensgewinne sowie die Bewertung, die Anleger für Aktien zu zahlen bereit sind.
Eine Überschlagsrechnung verdeutlicht diesen potenziellen Doppelschlag: Angenommen, die US-Wirtschaft fällt in den kommenden zwölf Monaten tatsächlich in eine Rezession und die Unternehmen im S&P 500 erreichen nicht 266, sondern nur 230 $ Gewinn je Aktie. Und weiter angenommen, dass die Investoren nur noch bereit sind, den 18-fachen Gewinn zu bezahlen – was historisch betrachtet immer noch eine überdurchschnittliche Bewertung ist –, dann müsste der S&P 500 auf einen Stand von 4140 (18 x 230) sinken. Das ist 25% tiefer als heute.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass der Aktienmarkt eine Rezession – das heisst vorübergehend rückläufige Unternehmensgewinne – nie unbeschadet übersteht. Die folgende Grafik zeigt als Beispiel die Phase um die Jahrtausendwende, als auf einen Zinserhöhungszyklus des Fed eine Rezession und ein Einbruch des Aktienmarktes folgte:
Einige Erklärungen zur Grafik: Die rote Fläche zeigt den Zeitraum, in dem das Fed die Zinsen erhöht hat. Die grüne Fläche steht für den Zeitraum zwischen der letzten Zinserhöhung und der ersten Zinssenkung. Die graue Fläche schliesslich markiert den offiziellen Zeitraum der Rezession.
Der S&P 500 (blaue Linie) verkraftete damals die Phase der Zinserhöhungen gut, aber als dem Aktienmarkt klar wurde, dass die Wirtschaft in eine Rezession fallen wird, stürzte er in eine Baisse, die erst im Oktober 2002 endete. Deutlich zu sehen ist auch, wie die erste Zinssenkung des Fed im Januar 2001 nur einen kurzen Freudenschub auslöste, bevor sich die Abwärtsbewegung fortsetzte.
Die folgende Grafik zeigt mit dem gleichen Muster den Zinserhöhungszyklus und die Rezession im Zeitraum zwischen 2004 und 2009:
Das sind zwei Extrembeispiele. 2000/01 platzte die Dotcom-Blase, was eine zweijährige, zähe Baisse verursachte. Die Rezession von 2008 ging sodann mit der globalen Finanzkrise einher, in deren Verlauf der S&P 500 mehr als 50% einbüsste.
Eine «normale», deutlich harmlosere Rezession ereignete sich 1990/91. In ihrem Verlauf (graue Fläche) büsste der S&P 500 etwas weniger als 20% ein, und er drehte bereits mitten in der Rezession wieder nach oben:
Diese Beispiele zeigen: Normalerweise «spürt» der Aktienmarkt einen nahenden Abschwung. Die Kurse brechen in der Rezession ein, beginnen sich aber noch vor ihrem offiziellen Ende wieder zu erholen. Eine Ausnahme bildete der Zyklus zur Jahrtausendwende, als die Erholung an den Börsen erst nach dem Ende der Rezession einsetzte.
Es gibt in der Historie nur selten ein Beispiel einer perfekten sanften Landung. Eines davon ist der Zinserhöhungszyklus von 1994/95. Dieser hatte keine Rezession zur Folge, mit dem Resultat, dass sich am Aktienmarkt eine mehrjährige Hausse fortsetzen konnte.
Aus diesem Grund ist die Frage in der kurzen Frist von grosser Bedeutung, ob eine Rezession bevorsteht oder nicht. Denn folgt auf die Frage die Antwort Ja, dann ist mit deutlichen Kurseinbussen zu rechnen.
Leider lässt sich diese Frage im Vornherein nicht beantworten, eine Rezession lässt sich nicht mit Sicherheit prognostizieren. Wir können gegenwärtig nur feststellen, dass ein erhöhtes Risiko besteht. Aus diesem Grund bleibt es wichtig, die Signale im Auge zu behalten, die die Aktien- und Bondmärkte in den kommenden Wochen und Monaten senden. Viele dieser Signale finden sich im wöchentlich publizierten Chart Pack von The Market.
Doch angenommen, die US-Wirtschaft fällt im Verlauf der kommenden zwölf Monate tatsächlich in eine Rezession und der hoch bewertete S&P 500 würde 20% oder mehr einbüssen: Könnten sich die deutlich günstiger bewerteten Börsen Europas (KGV Stoxx Europe 600: 13,5), Japans (KGV Topix: 14) sowie in den Schwellenländern (KGV MSCI Emerging Markets Index: 11,6) diesem Abschwung entziehen?
Leider nein. Die historische Erfahrung zeigt, dass andere Börsen eine derartige Baisse in den USA nicht unbeschadet überstehen. Aber es gibt Unterschiede: Defensivere Märkte wie die Schweiz mit den Schwergewichten Nestlé, Novartis und Roche dürften in diesem Szenario relativ betrachtet besser abschneiden, der besonders zyklische Dax in Deutschland könnte stärker leiden.
Doch was ist mit der langen Frist?
Eine Rezession ist per Definition ein vorübergehendes Phänomen. Und wenn sie nicht mit einer Finanzkrise einhergeht, müssen ihre Auswirkungen nicht dramatisch sein. Nach zwei bis vier Quartalen ist der Spuk vorbei, und ein neuer Aufschwung beginnt.
Auch hier lässt sich aus früheren Zyklen lernen: Noch in der Rezession – und damit mitten in der Börsenbaisse – beginnt sich in der Regel bereits ein neues Narrativ zu bilden, das die folgende Hausse tragen wird. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase beispielsweise begann die Renaissance der Value-Aktien sowie das BRIC-Narrativ der Schwellenländer und Rohstoffsektoren. Nach der Finanzkrise von 2008 begann der Siegeszug der amerikanischen Tech-Giganten, weil sie die einzigen Unternehmen waren, die in einer deflationären Nullzinswelt in der Lage waren, konsistent Wachstum zu liefern.
Was wird das Leitnarrativ der nächsten Hausse sein? Das lässt sich noch nicht sagen. Aber zwei strukturelle Themen haben in den vergangenen Jahren an Fahrt gewonnen, und ihr Trend dürfte von einer vorübergehenden Rezession nicht gebrochen werden:
Die Energiewende: Elektrizität ist die Leitenergie der Zukunft. Das bedeutet gewaltige Investitionen in die Elektrifizierung der Weltwirtschaft, in die Produktion, die Distribution (Übertragungsnetze) und die Speicherung von Strom.
Die Neuordnung von Lieferketten: «De-Risking», «Nearshoring» und eine gewisse Entkoppelung von Lieferketten aus China sind Tatsache. Jedes produzierende Unternehmen auf der Welt muss sich überlegen, wo es seine Güter für welche Märkte herstellen will und wie es robustere Lieferketten sichern kann. Das bedeutet Investitionen in neue Produktionskapazitäten in Staaten wie Vietnam, Indonesien, Indien, Mexiko oder Polen.
Beide Themen werden erhebliche Kapitalinvestitionen sowie riesige Mengen an Rohstoffen verschlingen. Und von diesen Investitionen werden Unternehmen aus Sektoren und Branchen wie Industrie, Chemie, Bau (Zement), Rohstoffe (Kupfer, Aluminium, etc.) und Energie profitieren.
Die Crux ist bloss, dass es sich dabei um konjunktursensitive Sektoren und Branchen handelt, die im Szenario einer Rezession zunächst leiden werden. Dieser Rückschlag könnte eine hervorragende Kaufgelegenheit bieten, um sich für die Zeit nach der Rezession und für den Beginn eines neuen Leitnarrativs – Kapitalinvestitionen für die Elektrifizierung der Wirtschaft sowie die Neuordnung der Lieferketten – zu positionieren.