Der hemdsärmlige Politiker wäre zum Abschluss seiner Karriere gerne höchster Zürcher geworden – doch diese Ehre bleibt ihm verwehrt.
Kurz vor Weihnachten 2024 tritt das Zürcher Kantonsparlament zur wichtigsten Sitzung des Jahres zusammen: zur Festsetzung des Budgets für das kommende Jahr. Es ist Montag, der 16. Dezember. Am Nachmittag steht die Diskussion über Investitionen auf dem Programm. Während die Kantonsrätinnen und Kantonsräte über das Für und Wider eines Ausbaus der Berufsschule Bülach streiten, passiert vorne im Saal, wo das dreiköpfige Ratspräsidium sitzt, etwas Sonderbares.
Der Sitz links von Ratspräsident Jürg Sulser (SVP) ist mit einem Mal leer. Vizepräsident Martin Farner ist aufgestanden. Er kehrt nicht zurück, sondern verlässt den Saal. Seit dem Vorfall fehlt Farner im Parlament.
Zwei Wochen später verschickt die FDP ein Communiqué: Farner, Vize und damit als nächster Parlamentspräsident gesetzt, wird dieses Amt im kommenden Mai nicht antreten. Obwohl es sein letztes grosses Ziel seiner politischen Karriere war. Seit 2008 sitzt er im Kantonsrat.
Ein Eklat im Parlament
Was der Auslöser von Farners Unpässlichkeit war, lässt sich nicht abschliessend klären. Die Plattform «Inside Paradeplatz» beschreibt in einem Bericht vom Montag aber einen Eklat.
Farner habe schon vor dem Mittag zu viel getrunken. Er sei dann, statt ans Fraktionsessen der Freisinnigen zu gehen, mit seinem Auto in die falsche Richtung an Einbahnschildern vorbei gekurvt. Ein Parlamentarier habe deswegen Anzeige erstattet. Der Vorfall habe dazu geführt, dass die FDP Farner über Weihnachten «notfallmässig aus dem Rennen» genommen habe – gegen Farners Willen.
Gesichert ist, dass es an diesem Tag einen Polizeieinsatz beim Tagungsort des Kantonsparlaments, der Bullingerkirche im Stadtzürcher Kreis 4, gab. Gesichert ist weiter, dass gegen Martin Farner ein Verfahren eröffnet worden ist.
Die Zürcher Staatsanwaltschaft bestätigt auf Anfrage, dass man Kenntnis vom Verdacht auf Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz habe. Allerdings lägen die polizeilichen Ermittlungsakten noch nicht vor, weshalb man sich noch nicht näher äussern könne. Farner wurde von der NZZ mit den Vorwürfen konfrontiert, wollte sich aber nicht äussern. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
Farner, Jahrgang 1963, war langjähriger Gemeinderat und Gemeindepräsident von Oberstammheim im Zürcher Weinland im Nordosten des Kantons. Als selbständiger Agrarunternehmer ist er einer der grössten Aprikosenhändler der Schweiz. Er ist CEO seiner eigenen Firma Farners, die landwirtschaftliche Produkte vertreibt, mit bis zu vierzig Angestellten je nach Saison.
Farner gilt als hemdsärmeliger Typ, gut vernetzt in landwirtschaftlichen Kreisen, beliebt auch bei SVP-Wählern. Er machte nie ein Hehl aus seinen Ambitionen auf ein höheres Amt.
2019 wollte er Regierungsrat und Nachfolger von Thomas Heiniger werden. Er war einer von drei parteiinternen Kandidaten, neben Jörg Kündig und Thomas Vogel. Letztgenannter wurde nominiert, schaffte es aber nicht, den zweiten FDP-Sitz in der Regierung zu halten.
Auch für die Wahlen 2023 liebäugelte Martin Farner mit einer Kandidatur, doch parteiintern standen ihm andere vor der Sonne.
Der ersehnte Sprung in den Nationalrat blieb ihm ebenfalls verwehrt, obwohl es diesbezüglich lange Zeit gut ausgesehen hatte für ihn. Nach den Wahlen von 2015 und 2019 war er jeweils erster Ersatzmann auf der Nationalratsliste. Das erhoffte Nachrücken blieb aber aus.
2023 holte Farner dann deutlich weniger Stimmen als vier Jahre zuvor. Der weit jüngere Andri Silberschmidt zog an ihm vorbei und wurde Nationalrat. Matthias Müller, Präsident der Jungfreisinnigen, platzierte sich ebenfalls vor ihm und wurde erster Ersatzmann.
Schon vor Monaten zeichneten sich Probleme ab
Als Kantonsratspräsident wäre Farner immerhin der formell höchste Zürcher geworden. Das Amt des Parlamentspräsidenten ist für Politiker, die kein höheres Exekutivamt erreichen, der traditionell versöhnliche Abschluss ihrer Karriere.
Doch schon vor Monaten zeichneten sich Probleme ab. Farner blieb dem Kantonsrat nach den Sommerferien für längere Zeit fern. Ratsmitglieder verschiedener Couleur rätselten über die Beweggründe und vermuteten gesundheitliche Ursachen.
Von der NZZ auf seine Absenz angesprochen, sagte er damals: «Ich sehe derzeit keinen Anlass, von meinem Amt als Vizepräsident zurückzutreten oder mich im kommenden Mai nicht für das Amt des Ratspräsidenten zur Wahl zu stellen.»
Als die FDP kurz nach dem Jahreswechsel Farners Rückzug aus der Geschäftsleitung des Kantonsrats ankündigte, gab die Partei gesundheitliche Gründe an. «Inside Paradeplatz» insinuiert nun, diese Begründung sei vorgeschoben gewesen – der wahre Grund sei der Vorfall vom 16. Dezember. Parteivertreter weisen diese Darstellung aber zurück: Farner hätte das Amt so oder so nicht angetreten. Tatsächlich ist die seit Monaten anhaltende Sorge um Farners Gesundheitszustand gut belegt. Um welches Problem es genau geht, ist unklar.
Auf Anfragen äussern sich Parteivertreter knapp. FDP-Fraktionschef Claudio Zihlmann sagt, es gebe dem offiziellen Communiqué vom 3. Januar nichts hinzuzufügen. Filippo Leutenegger, Präsident der kantonalen FDP, will die Angelegenheit nicht kommentieren.
So bleibt es bei einem dürren Rücktrittsschreiben, das der jetzige Kantonsratspräsident Sulser am Montagmorgen verlesen lässt. Darin hält Martin Farner fest, dass er seit 16 Jahren seiner grossen Leidenschaft nachgehen dürfe: der Politik. Zum Präsidium schreibt Farner: «Mit viel Freude hätte ich dieses Amt wahrgenommen. Doch meine Gesundheit erlaubt es nicht, dieses sehr intensive Amt wahrzunehmen.» Eines aber versichert Farner: Als Kantonsrat will er weitermachen.
Kaum verlesen, beendet Sulser die Sitzung. Keine Wortmeldungen, keine Bekundungen. Es ist das abrupte Ende einer Karriere.