Zwischen Actionkomödie und Burleske: Dem Siegerfilm «Anora» gelingt eine rasante Variation des «Pretty Woman»-Plots. Gewonnen hat an der Croisette auch ein «Narco-Musical».
Angesichts des eklektischen Filmangebots, in dem eher enttäuschende Werke von Grössen wie Jia Zhang-Ke mit unbekannten Namen konkurrierten, war der Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Cannes ungewöhnlich offen. Die Preisvergabe zeigte jedoch, dass die von der amerikanischen Regisseurin Greta Gerwig präsidierte Jury nicht nur ein gutes Auge bewies; in der Liste der prämierten Filme liess sich auch ein optimistisches Bekenntnis zur Zukunft des Kinos erkennen.
Die Goldene Palme wurde Sean Baker verliehen: «Anora» ist ein energiegeladenes Porträt einer Sexarbeiterin in Brooklyn, die einen russischen Oligarchensohn heiratet, um von dessen Familie alsbald wieder zur Scheidung gezwungen zu werden. Die Neuauflage des «Pretty Woman»-Plots erweist sich als Odyssee durch das New Yorker Nachtleben, die elegant zwischen Actionkomödie und Burleske navigiert. Die grossen Erzählbögen hat Baker («Florida Project») souverän angelegt, nuanciert erscheint auch die psychologische Zeichnung der Protagonisten, die von der Kamera so lange beobachtet werden, bis sie zu individuellen Zügen gelangen.
Emanzipation in Mumbai
Der «Grand Prix», der Inderin Payal Kapadia für «All We Imagine as Light» zugesprochen, lässt sich ebenfalls als ein Votum für einen Generationenwechsel verstehen. Die 38-jährige Regisseurin porträtiert drei Frauen aus Mumbai, deren Emanzipationsversuche in feinabgestimmten Nachtbildern eingefangen werden. Erst am Ende, als sich das Trio in ein Fischerdorf am Meer begibt, werden sich die Perspektiven des Filmes weiten. Die Regie entwickelt ein so starkes Gefühl für die Figuren, dass man bisweilen glaubt, deren Herzschlag zu spüren: es ist die empathischste Inszenierung, die an der Côte d’Azur zu sehen war.
Jacques Audiard, der für «Emilia Pérez» mit dem Jurypreis ausgezeichnet wurde, hat ein «Narco-Musical» vorgelegt, das sich auch als ein Plädoyer für die Transidentität lesen lässt: Die Titelfigur, der mexikanische Drogenboss Manitas, entzieht sich dem Krieg mit den konkurrierenden Kartellen, indem er sich dank der kundigen Hand eines israelischen Chirurgen seines männlichen Körpers entledigt und als Transfrau Emilia Pérez eine neue Existenz beginnt. Kann das gut gehen? «Emilia Pérez» hätte selbst als Hauptgewinner eine gute Figur gemacht, zumal Audiard auch auf die geballte Kraft seiner (kollektiv mit dem weiblichen Darstellerpreis prämierten) Schauspielerinnen Karla Sofía Gascón, Zoé Saldaña und Selena Gomez zählen konnte.
Während Jesse Plemons für seine magnetische Darstellung in Yorgos Lanthimos’ «Kinds of Kindness» den männlichen Darstellerpreis erhielt, konnte der Portugiese Miguel Gomes für «Grand Tour» den Regiepreis entgegennehmen. Die schwarz-weisse, vom Kommentar auf Distanz gehaltene Ehechronik aus den britischen Kolonien Südostasiens anfangs des 20. Jahrhunderts besitzt eine formale Strenge, allerdings ist die Inszenierung zu nahe an Gomes’ Vorwerk «Tabu» angesiedelt, um eine eigenständige Energie zu entwickeln.
Ehrenpreis für George Lucas
Der Drehbuchpreis für Coralie Fargeats grelle Horror-Dystopie «The Substance» war vermutlich der am meisten diskutierte Entscheid der Jury. Mit einhelligem Applaus wurde hingegen die Vergabe des Spezialpreises der Jury quittiert: Die Statue ging an den Iraner Mohammad Rasoulof, der für seinen Beitrag «The Seed of the Sacred Fig» — und vielleicht auch für sein Engagement als Oppositioneller — eine Sonderehrung erfuhr.
Eine Standing Ovation erhielt auch George Lucas, dessen Lebenswerk mit einer Palme d’honneur begrüsst wurde. Die Auszeichnung wurde ihm von Francis Ford Coppola überreicht, der auf der Bühne des Palais anschliessend auch Sean Baker zum Hauptpreis gratulieren konnte. Selten erschien das alte «New Hollywood» so nahe am Rücktritt.