Der Zürcher Publizist Charles Linsmayer hat eine Sammlung kurzer Texte von 135 Autoren herausgegeben und ebenso viele Kürzestbiografien verfasst.
Manchmal reicht es, eine Seite zu lesen oder zwei. Und man ist hingerissen, verzaubert – und hört nicht mehr auf zu lesen und möchte gleich alles andere auch noch lesen, was der Autor je geschrieben hat. So geschieht es nicht bloss einmal, sondern immer wieder in Charles Linsmayers soeben erschienenem weltliterarischem Lesebuch unter dem etwas umständlichen Titel «19/21 Synchron Global».
Aus drei Jahrhunderten hat der Zürcher Publizist und Literaturkritiker kurze Texte von 135 Autorinnen und Autoren zusammengetragen. Die Texte stehen stellvertretend für ein Gesamtwerk – und sie ergeben insgesamt ein weltliterarisches Panorama, das nicht etwa chronologisch geordnet ist. Linsmayer gruppiert seine kühne Auswahl nach thematischen Gesichtspunkten.
Labyrinthische Lesewege
Man kann in dem Lesebuch überall zu lesen beginnen. Beispielsweise bei Zadie Smith, die auf drei Druckseiten erklärt, warum sie als Tagebuchschreiberin unbrauchbar sei: weil bei ihrem Tempo das Schreiben über das Leben länger dauern würde als das Leben selbst. Oder man liest Marguerite Duras’ Text über das Kriegsende 1945 und stösst darin auf diese beklemmenden Sätze: «Ich will sterben. Ich bin mit einem Rasiermesser von der übrigen Welt abgeschnitten.»
Von hier kann der Leseweg im Buch nach vorne und in der Zeit zurück zu Victor Hugo gehen, der auf zwei Seiten einen zum Tod verurteilten Verbrecher seinen atemberaubenden Lebensrückblick erzählen lässt: am Tag, als er seinen Kopf unter die Guillotine legen muss. Dann liest man womöglich bei Cees Nooteboom, dass er dank seinem schmächtigen Körper, knapp fünfzig Kilo schwer, vom Wehrdienst befreit worden war. Und dass er viel später deswegen einen Platz in einem kleinen Flugzeug im Urwald Surinams ergatterte, das dann trotz dem Leichtgewicht kaum in die Luft kam.
Immer wieder reissen einen die Texte machtvoll mit, man wünschte gleich alles von Nooteboom, alles von Zadie Smith zu lesen und von Marguerite Duras ohnehin. Bei einem reichen sogar zwei Sätze: «In leichtem Trab dringt er in den Wald ein. Fast ohne dass er es zu lenken braucht, schlüpft sein Reittier zwischen den schwarzen Baumstämmen hindurch.» Und gleich reitet man mit dem französischen Literaturnobelpreisträger und Kriegsüberlebenden Claude Simon über die Schlachtfelder Flanderns.
Ein Symbol der Freiheit
Die fabelhaften Texte und die bis auf ein paar seltsame Entscheidungen exquisite Auswahl dieser Anthologie sind das eine. Das andere sind Charles Linsmayers Kurzbiografien, mit denen er den Lesern die Autorinnen und Autoren vorstellt. Es sind kleine Meisterwerke des Genres. Ob Zadie Smith oder Marguerite Duras, ob Claude Simon oder Virginia Woolf: mit wenigen Strichen entwirft Linsmayer prägnante Porträts der Autoren, indem er mitunter gerade auch scheinbar Nebensächliches hervorhebt. Und zugleich skizziert er in den grossen Linien ihr literarisches Schaffen. So entsteht im Anhang dieses Lesebuchs ein schmales weltliterarisches biografisches Lexikon.
Zu den vielen bewegenden Texten dieses Bandes gehört auch einer der berühmten Briefe Václav Havels an seine Frau Helga, die er ihr aus dem Gefängnis geschrieben hat. Am 27. September 1980 berichtet er ihr, man erwarte offenbar von ihm, «dass ich nach meiner Rückkehr von hier etwas über das alles schreiben werde». Er sei aber ganz und gar ausserstande dazu, vielleicht würde daraus ein Theaterstück. Hingegen berichtet er, wie er das Teetrinken als Ritual in seine «Selbstfürsorge» eingebaut habe: Der Tee sei so etwas «wie ein materialisiertes Symbol der Freiheit».
19/21 Synchron Global. Ein weltliterarisches Lesebuch von 1870 bis 2020. Ausgewählt und herausgegeben von Charles Linsmayer. Th.-Gut-Verlag, Zürich 2024. 652 S., Fr. 43.90.