2007 wurde Chiara Poggi im Haus ihrer Eltern ermordet. Ein Gericht sprach ihren Freund schuldig. Doch nun ermittelt die Polizei plötzlich wieder. Das stört die Familie des Opfers.
An einem Augustmorgen öffnete Chiara Poggi ihrem Mörder die Tür – und wurde brutal erschlagen. Es war das Jahr 2007, damals war Poggi 26.
Der Tatverdacht fiel bald auf ihren Freund, den 24-jährigen Alberto Stasi. Er hatte die Polizei alarmiert, beteuerte seine Unschuld – und wurde dennoch nach einem langjährigen Prozess zu 16 Jahren Haft verurteilt. Zu Recht?
Polizei hat Ermittlungen wieder aufgenommen
Der Mord liegt 18 Jahre zurück und wird nun neu aufgerollt. Dank neuen Technologien gibt es plötzlich neue Spuren, Vorladungen, einen neuen Tatverdächtigen und womöglich sogar eine Tatwaffe. Für den verurteilten Stasi ist dies ein Triumph. «Wir sind gerade dabei, die Geschichte neu zu erzählen», sagte Antonio De Rensis, Stasis Anwalt, vor Journalisten und Kamerateams. Stasi sitzt nach wie vor im Gefängnis. Sein Mandant sei entspannt, sagte De Rensis.
Der Fall erinnert an das Schicksal von Amanda Knox. Die Amerikanerin sass fälschlicherweise für den Mord an ihrer britischen Mitbewohnerin Meredith Kercher in einem italienischen Gefängnis. 2015 wurde sie letztinstanzlich freigesprochen. Knox sass vier Jahre unschuldig, bei Stasi wären es heute zehn Jahre. Der Fall Poggi bewegt ganz Italien – und irritiert die Familie des Opfers. Sie scheint sich daran zu stören, erneut im Fokus der Ermittler und Medien zu stehen.
Opfer und Täter haben sich wohl gekannt
Die Polizei suchte den Täter von Anbeginn im nahen Umfeld von Chiara Poggi. Denn Poggi war am Tag ihrer Ermordung alleine im Elternhaus im Ort Garlasco gewesen, Eltern und Bruder waren vereist. Sie hatte dem Täter oder der Täterin freiwillig die Tür geöffnet, noch im Pyjama. Es gab keine Einbruchsspuren. All das spricht laut Polizeiangaben dafür, dass sich Opfer und Täter gekannt haben.
Stasi kam den Ermittlern schon früh verdächtig vor. Er fand die Leiche seiner damaligen Freundin und alarmierte die Polizei. Doch misstrauisch wurde die Polizei auch wegen seiner Schuhe. Als die Polizisten das Haus betraten, waren überall Blutspuren. Stasis Schuhe waren jedoch makellos. Ausserdem verstrickte sich Stasi in den Anhörungen in Widersprüche. Und ein Zeuge wollte Stasis Velo an jenem Morgen bei der Villa der Familie Poggi gesehen haben. Das reichte für eine Anklage.
Die Beweislage war dünn, und der mutmassliche Täter wies alle Schuld von sich. Und doch wurde er schuldig gesprochen. Nachdem zwei Instanzen Stasi wegen mangelnder Beweise freigesprochen hatten, kassierte der oberste Gerichtshof das Urteil. Ein neuer Prozess wurde aufgerollt, die Beweise überprüft. Im Dezember 2015 wurde Stasi letztinstanzlich wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt – zu 16 Jahren Gefängnis.
Familie des Opfers ist sich sicher: Stasi ist der Täter
Nach zehn Jahren Haft darf der heute 41-jährige Stasi nochmals aussagen. Die Staatsanwaltschaft hat zudem weitere Personen vorgeladen, etwa Poggis jüngeren Bruder und dessen Jugendfreund Andrea S. Gegen Letzteren wird seit einigen Wochen offiziell ermittelt. Fingerabdrücke am Tatort hätten ihm zugeordnet werden können, teilte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch mit. Neue forensische Technik macht dies möglich.
Offenbar gibt es noch weitere DNA-Spuren am Tatort, die bisher keiner Person zugeordnet werden konnten. Die Polizei hat mehrere Personen zur Abgabe einer DNA-Probe aufgefordert, unter ihnen Familienangehörige von Poggi.
Die Familie Poggi reagiert irritiert auf die neuen Ermittlungen. Für sie sei klar, dass Stasi der Täter sei, sagte ihr Rechtsbeistand Gian Luigi Tizzoni. Die Medien hingegen berichten fiebrig über den Fall, wie schon vor 18 Jahren. Journalisten durchleuchten das Leben des neuen Tatverdächtigen und der Familie Poggi. Private Nachrichten und Bilder von Überwachungskameras werden veröffentlicht.
Die Medien berichten zudem über einen möglichen Durchbruch in den Ermittlungen: Angeblich ist die Tatwaffe gefunden worden. Bisher war nur bekannt, dass Poggi mit einem schweren Gegenstand erschlagen worden sein soll. Gefunden wurde der Gegenstand nie. Nun hat die Polizei laut Berichten im Örtchen Tromello, das nahe dem Tatort liegt, einen kleinen Bach durchsucht und dabei einen Hammer und andere Metallgegenstände entdeckt.
Auch das könnte der Familie Poggi eventuell unangenehm werden: Der Bach fliesst just hinter dem Haus vorbei, in dem die Grossmutter der zwei Cousinen von Chiara Poggi wohnte. Ein neu aufgetauchter Zeuge will eine von ihnen nach der Tat beim Bach gesichtet haben. Die Staatsanwaltschaft hat die beiden Cousinen aufgefordert, DNA-Proben abzugeben.
Mit Agenturmaterial.