In ihrem neuen Roman «Goldstrand» schickt die Schriftstellerin Katerina Poladjan einen Filmregisseur in die Psychoanalyse. Dabei setzen sich seine eigene Existenz und das Leben seiner Familie kaleidoskopartig zusammen.
Sergei Eisenstein hat sie mit seinem Film «Panzerkreuzer Potemkin» weltberühmt gemacht: die Treppe, die vom Zentrum Odessas hinunter zum Hafen führt. Weil Katerina Poladjans neues Buch «Goldstrand» vieles ist und auch ein Roman über das Kino, kommt das Bauwerk aus dem 19. Jahrhundert gleich am Beginn vor.
In einer geschilderten Filmsequenz. Es ist das Jahr 1922. Man sieht einen Mann, eine junge Frau und einen kleinen Jungen die Treppe hinuntersteigen. Ein Schiff soll die drei nach Konstantinopel bringen. Als dann die Lichter Odessas längst vom Horizont verschwunden sind, schwingt sich die junge Frau auf die Reling und springt ohne zu zögern ins Meer.
Schnitt in der Zeit
Ist das ein Ende oder ein Anfang? In Katerina Poladjans wunderbar verschachteltem Roman ist es beides. Ein Schnitt in der Zeit, der Horizonte der Phantasie und der Ängste öffnet. Ganz leicht werden in «Goldstrand» die Kulturtechniken des Films und der Psychoanalyse miteinander verknüpft. Das erinnert ein bisschen an Italo Calvino, trägt aber die unverwechselbare Handschrift einer Autorin, die Geschichten erzählen kann, sich aber auch dem Reiz intellektueller Lockerungsübungen nicht verweigert.
Von der Filmszene am Schwarzen Meer schwenkt der Roman ins gegenwärtige Rom. Der in die Jahre gekommene Regisseur Eli liegt bei der «Dottoressa» auf der Couch. Wieder und wieder wird er im Laufe des schlanken Buchs zu den Analysesitzungen kommen, um über sich zu reden. Dabei setzt sich nicht nur seine eigene Existenz kaleidoskopartig zusammen, sondern auch das Leben seiner Familie. Der kleine Junge auf der Treppe in Odessa ist sein Vater Felix. Ihm hat er seinen letzten grösseren Film gewidmet. Seine Tochter hat Eli nach der verschwundenen Tante benannt: Vera.
Wenn das italienische Adjektiv «vera» «wahr» bedeutet, was ist in dieser verwickelten Geschichte die Wahrheit? Die ersten Analysesitzungen führen an die bulgarische Schwarzmeerküste. Dort wird die verschwundene Vera von Vater Lew und seinem Sohn Felix gesucht. Sie richten sich in einer Hütte am Strand ein, bis der Zweck des Aufenthalts mehr und mehr verblasst. Es geht in die Hauptstadt, wo Felix Architektur studiert und schliesslich zu einem der Planer jenes Tourismusprojektes wird, das dem Roman den Titel gegeben hat: «Goldstrand». Statt Vaters Hütte ein Hotel neben dem anderen. Der reale Golden Beach bei Varna glänzt noch heute mit den Bauwerken einer ehemaligen kommunistischen Avantgarde.
Ein Kopf voller Projekte
Katerina Poladjan erzählt ihren Roman in atmosphärischen Sprüngen, wobei jeweils eine Analysesitzung ein Kapitel ergibt. Erst in professioneller Zurückhaltung und später mit empathischem Wohlwollen lauscht die «Dottoressa» den Geschichten des prokrastinierenden Regisseurs. Sein Kopf ist voller Projekte, sein Konto ziemlich leer. Er hängt Mutmassungen über sein Leben nach und verliert sich in jener Stadt, die heimliche Hauptdarstellerin des Buchs ist.
Die römischen Cafés, die das Leben verlangsamende Mittagshitze und die Schimären der Vergangenheit vermischen sich zu einer gefährlichen Substanz. Wenn die Sitzungen zu Ende sind, tritt Eli auf der Stelle. Er sitzt allein in der allmählich zerbröselnden Villa, die ihm der Grossvater vermacht hat. Frau und Tochter haben ihn längst verlassen.
Seine Mutter Francesca, die mit Felix eine einzige unbedachte Nacht am bulgarischen Strand verbrachte, interessiert sich wenig für ihn. Als Produkt eines touristischen Abenteuers versucht Eli, die Fäden der undurchsichtigen Familienbiografien zusammenzuführen. Als Leser tut man das mit ihm. Altes, Mussolini-treues römisches Bürgertum hat sich mit den Genen linker Widerständler gemischt. Bis zum Melancholischwerden ist die Verwandtschaft in Sesshafte und Flüchtende geteilt. Ist der Sprung einer jungen Frau ins Wasser, der vor hundert Jahren stattfand, der Webfehler dieser Geschichte?
Roman der Ambiguitäten
Katerina Poladjan macht aus ihrem kleinen Roman grosses Kino. Von der Analytiker-Couch wird filmisch hineingeblendet in die Weiten eines europäischen Jahrhunderts. Erzählerisch endet die Flucht vor dem Bolschewismus des Jahres 1922 in einem Handlungsstrang der Gegenwart.
Elis mit einer Deutschen gezeugte Tochter macht Erinnerungsarbeit im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg. In ihrer Wirklichkeitszugewandtheit kann sie mit dem träumerischen Vater wenig anfangen. Der Höhepunkt dieser entfremdeten Nähe ist im Roman peinlich genau geschildert. Bei der Premiere seines Spielfilms über die Flucht aus Odessa und den fatalen Sprung ins Meer reagiert Elis Teenagertochter mehr als nur teenagertochterhaft. Sie wisse nicht, was das alles solle. Der Film ist nicht eindeutig, er bezieht ihr nicht genügend klar Stellung.
«Goldstrand» ist ein Roman der Ambiguitäten, der offenen Enden. Wie alle guten Romane hebelt er das Prinzip von Ursache und Wirkung aus und entwickelt einen Möglichkeitssinn. Wie viel ist möglich am Goldstrand des Fabulierens? Zumindest so viel, wie sich die Wirklichkeit selbst ausdenken könnte.
Katerina Poladjan: Goldstrand. S.-Fischer-Verlage, Frankfurt am Main 2025. 160 S., Fr. 32.90.