Auf dem Balkan streiten sich Serben und Bosniaken über die Bezeichnung der Kriegsverbrechen von Srebrenica 1995. Beide Seiten mobilisieren jüdische Genozidforscher für ihre Sache.
«Wir haben nichts dagegen, die Kriegsverbrechen in Bosnien und anderswo zu verurteilen. Aber wir sind dagegen, dass das serbische Volk als genozidär bezeichnet wird.» Was den serbischen Aussenminister Ivica Dacic an einer Pressekonferenz Mitte April empörte, ist eine Uno-Resolution zum Völkermord von Srebrenica 1995. Sie wurde von Deutschland und Rwanda eingebracht, die Vollversammlung soll Anfang Mai darüber abstimmen.
Seither berichten die serbischen Medien von den hektischen Anstrengungen der Belgrader Diplomatie, die Vertreter der Uno-Mitgliedsstaaten zumindest von einer Stimmenthaltung zu überzeugen. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic kritisiert, die Vorbereitung der Resolution sei insgeheim in aller Stille verlaufen.
Belgrad sei nie konsultiert worden, und die Verabschiedung werde die Spannungen in der Region weiter erhöhen, sagte Vucic warnend. 2015 hatte Russland mit einem Veto eine Resolution des Sicherheitsrates verhindert, die den Genozid in Srebrenica verurteilte. In der Vollversammlung dagegen genügt eine Mehrheit. Die Annahme der Initiative wird erwartet.
Jüdische Experten als «Kronzeugen»
Im Sommer 1995 hatten bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladic die Uno-Schutzzone im ostbosnischen Srebrenica überrannt. Bei Massakern, die unter den Augen der niederländischen Uno-Truppen stattfanden, wurden über 8000 bosniakische (muslimische) Männer und Buben ab 13 Jahren ermordet. Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wertete 2001 den Massenmord als Genozid. 2007 kam der Internationale Gerichtshof (IGH) nach zusätzlichen Abklärungen zu demselben Schluss.
Der genaue Wortlaut der geplanten Srebrenica-Resolution ist noch nicht bekannt. Was man auszugsweise weiss: Der 11. Juli soll weltweit als Gedenktag für die Massaker etabliert werden. Die Resolution verurteilt «jeden Versuch, den Genozid abzustreiten». Zudem unterstützt sie «alle Bemühungen, die Täter dieses Massakers vor internationale Gerichte zu bringen». Der Hauptverantwortliche, Ratko Mladic, wurde 2017 vom ICTY zu lebenslänglicher Haft verurteilt.
Von Serbien oder der Republika Srpska, dem serbisch dominierten Landesteil Bosnien-Herzegowinas, ist in der Entschliessung keine Rede. Und selbstverständlich auch nicht von einem «genozidären Charakter» des serbischen Volkes. Die Entschliessung fokussiert vielmehr auf die Opfer und ihre Angehörigen.
Das hindert die serbischen Regime-Politiker und ihre Medien aber nicht daran, von einem Angriff auf das Ansehen des serbischen Volkes zu sprechen. Dass der Vorstoss ausgerechnet von den Deutschen komme, so Aussenminister Dacic, sei besonders bitter.
In der Debatte mobilisiert das offizielle Serbien jüdische Experten als Kronzeugen. Unter ihnen sind angesehene Historiker wie der Genozidforscher Yehuda Bauer, der ehemalige Leiter des Internationalen Zentrums für Holocaust-Studien in Yad Vashem. In einem kurzen Video sagt Bauer, in Srebrenica habe sich kein Genozid ereignet, sondern ein Massenmord. Davon gebe es Hunderte von Fällen in der Geschichte.
Auch Efraim Zuroff, vormals Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, hat sich in die Diskussion eingeschaltet. Es sei offensichtlich, dass in Srebrenica ein schweres Kriegsverbrechen verübt worden sei. Doch die serbischen Täter hätten systematisch nur Männer und männliche Jugendliche ermordet und die Frauen verschont. Es könne sich deshalb nicht um einen Genozid handeln.
In einem Meinungsartikel in der «Jerusalem Post» kritisiert Zuroff die Politisierung des Genozidbegriffs. Er sei durch den Gebrauch zu einer propagandistischen Waffe gemacht worden, mit der weltweit Opfergruppen Genugtuung und Entschädigung einforderten. Dieser Missbrauch, so Zuroff, könne sich eines Tages auch gegen Israel und seine Kriegführung in Gaza richten. Der israelische Botschafter in Belgrad schliesst sich dem an: Israel werte die Greueltaten in Srebrenica nicht als Genozid. Die Resolution sei eine Folge davon, dass in der Uno alles und jedes politisiert werde.
Auf der Gegenseite zitieren bosnische Medien in Sarajevo den jüdischen Rechtsprofessor Menachem Rosensaft von der New Yorker Columbia-Universität. Er wirft Zuroff vor, den Genozid falsch als abstraktes Konzept darzustellen und zum Gegenstand von intellektuellen Spitzfindigkeiten zu machen. Genozid sei aber ein etablierter Begriff des internationalen Rechts: Er liege vor, «wenn durch Tötung und andere Massnahmen die Absicht verfolgt wird, eine ethnische oder religiöse Gruppe als ganze oder in Teilen zu vernichten». Genau dies hätten die Gerichte in Den Haag im Fall von Srebrenica eindeutig festgestellt.
Das bestreitet Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska, des serbisch dominierten Landesteils von Bosnien-Herzegowina. Wohl sei in Srebrenica 1995 ein Verbrechen begangen worden, sagte er an einer Feier in Banja Luka im April. Er zolle den Opfern Respekt und spreche den Angehörigen sein Beileid aus. Doch einen Genozid habe es dort nicht gegeben. Gleich nach dem würdevollen Moment verfiel er in seinen gewohnten hetzerischen Stil und rief, mit den Bosniaken wolle er eigentlich nicht einmal die Luft teilen – und schon gar nicht einen Staat.
Rückschritte im Umgang mit der Vergangenheit
Man war in dieser Frage schon weiter. 2005, in einem anderen geopolitischen Umfeld – der EU-Beitritt schien absehbar –, hatte Milorad Dodik gesagt, er wisse genau, was sich in Srebrenica zugetragen habe. «Es war Genozid, festgestellt vom Gericht in Den Haag.» Dodik war damals ein von den Amerikanern protegierter Politiker. Fünf Jahre später, im März 2010, verabschiedete das serbische Parlament in Belgrad eine Resolution, in der es «die Verbrechen gegen die bosnisch-muslimische Bevölkerung von Srebrenica» verurteilte. Und zwar «so, wie sie vom Internationalen Gerichtshof festgestellt worden sind». Dieser spricht bekanntlich von Genozid.
Eine solche Geste ist heute undenkbar. Präsident Aleksandar Vucic bezeichnet die Uno-Resolution «als hinterhältigen Angriff», gegen den er mit allen Mitteln ankämpfe. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit findet seit Jahren von offizieller Seite nicht mehr statt. Im Gegenteil. Die Sprache gleicht oft jener der 1990er Jahre: Serbien, umzingelt von Feinden.
Auch der Blick in die Republika Srpska ist aufschlussreich. Dort war der Haupttäter von Srebrenica, Ratko Mladic, viele Jahre lang kein Thema mehr. Doch im Sommer 2021 dekretierte der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft, Valentin Inzko, dass die Leugnung von Kriegsverbrechen fortan strafbar sei. Buchstäblich über Nacht waren die Fassaden in Banja Luka vollgepinselt mit dem Bild des Kriegsverbrechers. Die abblätternde Farbe wird regelmässig erneuert.
Die Uno-Resolution zum Genozid in Srebrenica ist als Geste an die Opfer sehr berechtigt. Ein Beitrag zur Versöhnung zwischen Serben und Bosniaken, wie ihre Sponsoren schreiben, ist sie allerdings nicht.